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Akados Welt

von sabbatradler
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27.04.2010 (m, k) Kitatono-Nagoya: 40 km Fahrrad, 170 km Zug
Heute haben zwei deutsche, friedliebende und umgängliche Tourenradler die Bekanntschaft mit dem Japaner Akado (Name v. d. Red. geändert) gemacht. Akado ist „Conductor“ bei der Iida-Line. Das Leben in den Bergen ist nicht immer leicht, doch Akado mag die Berge und ihm macht auch der Regen nichts aus. Seit 35 Jahren ist er bei der Iida-Line angestellt. Am Anfang als einfacher Schaffner – nach 22 Jahren war er dann aufgestiegen zum „Conductor“. In diesen Jahren hat er allerlei erlebt in seinem Beruf, und auch heute hat er etwas zu erzählen, aus seiner kleinen (beschissenen, Anm. d. Red.) Welt, als er nach Hause kommt:
„Heute war ein großer Tag für mich! Habe ich doch mit aller Kraft dafür gesorgt, dass Recht und Ordnung bei unserer hochverehrten „Iida-Line“ erhalten bleiben. Gegen 10 Uhr stiegen zwei komische Gestalten in meinen Zug ein, der heute aus drei Wägen bestand. Ich weiß nicht, woher sie stammen, aber auf jeden Fall waren es keine Japaner! Sie stiegen mit sehr viel Gepäck ein und zwei riesigen, schwarzen Säcken. Ich konnte mich zuerst nicht darum kümmern, da ich unter allen Umständen den Fahrplan einhalten musste. Nach zwei Stationen gibt es auf dieser Strecke aber einen längeren Stopp. Nun ließ ich mir den Inhalt der Säcke zeigen – Fahrräder! Ha, das gibt’s ja wohl gar nicht. Richtige, große Fahrräder. Nicht solche, die in Japan alle haben, die man zusammenklappen kann. NEIN! Echte Fahrräder! Nach den Beförderungsrichtlinien unserer Bahngesellschaft ist das nicht gestattet. Daher lächelte ich die beiden an und kreuzte meine Arme vor dem Körper. Ich weiß nicht, ob die beiden diese Geste kannten, schließlich sind es ja keine Japaner! Daher deutete ich mit einer weiteren Geste an, dass die beiden aussteigen sollen. Sie sahen sich an und taten so, als verstünden sie nicht. Ha, ich ließ mich nicht beirren. Immer und immer wieder kreuzte ich die Arme (irgendwann müssen doch auch solche Menschen, die nicht aus Japan kommen, so etwas verstehen). Ein jüngerer Kollege war mit mir in der Bahn. Er war natürlich der gleichen Meinung wie ich. Aber die beiden Ausländer stiegen einfach nicht aus. Da wurde ein anderer Fahrgast wild. Er stand auf, schrie herum, schrie uns an und bedrängte uns. Schnell schlossen mein Kollege und ich uns in der Fahrerkabine ein. Ich griff zum Sprechfunk und verständigte die Zentrale. Schnell war klar: diese Ausländer müssen aus dem Zug! Sonst besteht eine große Gefahr für das Land. Mein Kollege spricht wohl etwas Englisch: er kreuzte die Finger und sagte: „Sorry.“ (ich glaube, das bedeutet, dass es ihm leid tut – dafür werde ich ihn bei meinem Vorgesetzten noch anzeigen. Er kennt doch auch die Regeln. Warum tut im sowas leid??)
Ich wurde langsam sehr nervös, denn der Zug hätte längst abfahren sollen. Immer noch weigerten sich die beiden auszusteigen. Der Mann schrie weiter auf uns ein. Langsam drohte, Chaos auszubrechen. Ich blieb aber ruhig. Dafür bin ich geschult. Ich kreuzte weiter die Arme und deutete nach draußen. Ruhig bleiben, Anweisungen geben, keine Gnade zeigen – so verhindert man das Chaos. Wir hatten nun schon 15 Minuten Verspätung. Endlich kam der Bahnhofsaufseher zur Hilfe. Er blickte in den Wagen, nickte: auch für ihn war völlig klar, dass hier ein Rechtsbruch vorliegt. Diese beiden Aufsässigen, ja denken sie denn gar nicht an die 11 anderen Passagiere im Wagen, die zu spät zu ihren Terminen kommen! Unterdessen hatte mein Chef die Polizei alarmiert. Etwa gleichzeitig mit den drei Polizisten traf auch er im Laufschritt ein. Die Polizisten begannen sofort mit dem Verhör und nahmen die Personalien auf. Mein Chef war großartig. Ich mag ihn. Er hat eine tolle Uniform und eine Mütze mit vielen bunten Streifen. So eine will ich auch mal. Außerdem spricht er Englisch und konnte so mit den Tätern sprechen. „Big bike no!“ Ich weiß nicht, was das heißt, aber es klang toll. Ich werde auch beginnen, Englisch zu lernen, falls (in etwa 58 Jahren, Anm. d. Red.) mal wieder Ausländer mit echten Fahrrädern in unsere kleine (beschissene, Anm. d. Red.) Iida-Line einsteigen werden.
Tja, die Polizei griff dann schnell durch und die zwei mussten aussteigen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, konnte ich doch beweisen, dass hier in Japan Regeln über allem Stehen und man nicht denken oder fühlen muss, wenn man in eine Situation gerät. Das Leben ist doch so einfach – oder, Miu? Miu?“
Das Schlagen der Wohnzimmeruhr reißt Akado zurück in die Realität. Er nimmt einen Schluck aus der Asahi-Dose, deren Inhalt in seinen Händen warm wie Grüntee geworden ist. Vor ihm auf dem Tisch liegt der leere Plastikbehälter von seinem Hähnchenschnitzel auf Reis in brauner Soße, das er sich auf dem Heimweg zur Feier des Tages gekauft hat. „Ja, Miu“, sagt er mit einer Stimme, die sich nicht zwischen Trotz und Trübsal entscheiden kann, „das hätte ich dir heute Abend erzählen können und du wärst stolz auf mich gewesen“. Noch immer ist er nicht ganz darüber hinweg, dass seine Frau Miu ihn vor 16 Jahren verlassen hat. „Zu zwanghaft!“ – war ihr Argument. Akado hat es nie verstanden.
Und nie erfahren wird er, wie die Geschichte mit den Tourenradlern weiterging. Als der Zug abgefahren ist, beladen beide ihre Räder mit nach 8 Monaten Radreise zur Routine gewordenen Handgriffen. Nur etwas zorniger als sonst vielleicht. Wobei Zorn sich bei den beiden ja nicht mit der gleichen Gefühlsregung zeigt. Während er bei Molle als solcher erkennbar ist und schon einmal ein paar Gepäcktaschen aus dem Zug hinausgekickt werden, hat Katrin die Last eines in dieser Hinsicht schlechten Genpools zu schultern: es fließen Tränen. Wuttränen über Sturheit und Unfähigkeit anderer Menschen, aber das weiß ja keiner. Und dann auch noch in Japan – wo man doch schließlich zu jedem Scheiß zu lächeln hat. Nach diesem Lehrstück an japanischer Gesellschaftsstruktur im Schnelldurchgang (Pickelhaube lässt grüßen! Eklatant offensichtlich gibt es einen Unterschied zwischen freundlich sein und sich freundlich verhalten) stehen die beiden noch ein wenig mit den mittlerweile vier Polizisten zusammen, während ein (wohl auch noch eilig herbeigerufener) Oberbulle in Zivil, der mit seiner jungen, gut gekleideten Assistentin und einem Fahrer angerückt ist, noch wild herumtelefoniert. Die jungen Polizeimenschen sind sehr freundlich, lustig und sehr bemüht – sie scheinen nicht hinter der Entscheidung des Schaffners zu stehen, doch was sollen sie schon machen? Personalien aufnehmen, das ist doch eine Idee. Street? Name? Age? Profession?…Was fällt uns noch ein? Ach ja: When came to Japan? Die besorgten Fragen, wohin die beiden nun wollen, können sie beantworten: zum Bahnhof Okaya radeln, der etwa 25 Kilometer von hier entfernt ist und von dem eine andere Zuglinie fährt, in die sie sowieso umsteigen wollten. Schnell aktiviert ein junger Polizist mit seinem Handy die Googlemappe und weist den Weg aus dem Kaff. Eine nette Verabschiedung folgt, ehe die Tourenradler in den nun eingesetzten Regen hinaustreten. Keine zwei Querstraßen weiter werden sie von einem silbernen Toyota überholt, der sodann abrupt vor ihnen zum Stehen kommt. Die gut gekleidete Assistentin springt aus dem Wagen, gemeinsam mit dem Oberbullen, der schön im Trockenen sitzen bleibt, machen sie den Radlern klar, dass sie noch mit ins Polizeiböxle kommen müssen, bis die Ermittlungen mit der Bahn abgeschlossen sind. Also hinter der Assistentin her und hinein ins Verhörzimmer des kleinen Holzbaus der Polizei von Ina-Matsushima. Schwarzer Kaffee wird kredenzt und zwei kleine, frische Handtücher zum Abrubbeln der Goretexkleidung werden gereicht. Und nun? Na, man könnte ja mal noch die Personalien richtig aufnehmen, indem man die Pässe kopiert und sich dann die einzelnen Posten übersetzen lässt und sie in japanische Zeichen transkribiert. Die beiden Radler haben nun doch ein wenig Angst, es könnten noch Kosten auf sie zukommen. Immerhin hat der Zug 25 Minuten Verspätung, nur, weil sie sich geweigert haben, auszusteigen, obwohl der mit sich ringende Schaffner öfter die Arme und Hände vor der Brust gekreuzt hat. Der junge Officer, der ein wenig Englisch kann hört sich geduldig an, welche Züge die beiden in Japan schon ohne irgendwelche Probleme genommen haben. Ganz im Gegenteil, die Schaffner waren immer äußerst nett und zuvorkommend. Nach einer guten Stunde nimmt das Ganze schließlich ein gutes Ende (oder aber es kommt noch eine dicke Rechnung nach Hause): „o.k.“, „finish?“, „yes“. Und, „in Okaya einfach leise einpacken und rein in den Zug“ – gibt’s noch als Tipp. Jetzt schifft es richtig. Die beiden Radler geben sich dem Siff hin, ändern sogar noch ihre Route, um nicht in Okaya auf einen Bahnhof zu stoßen, der schon komplett über die Übeltäter informiert ist und fahren direkt nach Shiojiri, einem Bahnhof der Chuo-Line südlich von Matsumoto. Die digitalen Thermometer an der stark befahrenen Straße schwanken zwischen 7 und 6 Grad, der Chillfaktor reduziert das allerdings vor allem in der 6 km langen Abfahrt kurz vor Shiojiri auf plusminus Null. Der Tacho zeigt dann doch 40 Kilometer, als die beiden Radler am Fuße des Bahnhofs ein Udonrestaurant entern, sich alle durchnässte Kleidung vom Leib reißen, 8 Stühle mit nassen Klamotten belegen und vor der angeschalteten Gasheizung sitzend eine „hearty bowl of Udon“ hineinziehen. Um 16.05 Uhr gibt es eine „Local and Rapid“-Verbindung nach Nagoya. Als Alternativziel zum geplanten Camping am Biwako-See klingt das doch sehr gut, vor allem der Reiz eines trockenen Internetcafés. Beim Einpacken der Räder kommt es noch zu einem kurzen Gespräch mit einem Einheimischen in den späten Fuffzigern: „Nice to meet you!“, „Hello!“, „Where are you from?“, „Doits“, „Ah, doits. You are doits, but you speak English. All German people speak English”, “Yes, most of them. But many Japanese people don’t speak English, they learn many years at school, but they don’t speak”, “You’re totally right, that’s a matter of fact! I wonder, why you came to Japan.” “Ja, wir auch! Äh, yes, to visit“, „Ah, to visit. This region is not so popular with foreign tourists. But Japanese people are very kind and very friendly“, „Yes, normally yes, but not today….” Die Geschichte wird kurz erläutert. „Oh, maybe it was a rule!“ „Yes, that’s it. Maybe it was a rule!“, den beiden Radlern geht ein Licht auf. Klar, so ein „rule“, dass ein verpacktes Fahrrad geknickt werden muss, bevor man es in einem großen, leeren Zug transportieren darf, kann man nicht einfach übergehen. Das kann schon mal bei der Polizei enden. „Now we’ll try again to take the train!“, „O.k., good luck. If you need me, I can help you.“, „Thank you. Bye, bye!“ Etwas verunsichert ob der heutigen Erfahrung schleichen sich die jetzt wieder trockenen Radler in den Zug, doch wie bisher in Japan findet niemand daran Anstoß. Auch das Umsteigen in den Rapid klappt problemlos, kurz vor Nagoya ernten sie sogar freudige und bewundernde Blicke und echtes Interesse von Mitreisenden. Um 19.30 Uhr stehen sie am Bahnhof der auf den ersten Blick sehr stylisch wirkenden 2,5 Millionen Metropole. In Sporthosen mit bunten T-Shirts und Jacken sowieso auffällig unter all den dunklen Anzug- und Kostümträgern, doch mit den Rädern allemal, ziehen sie die Aufmerksamkeit eines alten Männleins mit zwei Taschen und einem Jackett mit zahlreichen Buttons darauf (roter Zug, Löwe, Schwan, Comictiger,…) auf sich. Ein kurzer Smalltalk, Verabschiedung, Umdrehen, „präsento“-Überreichung: ein gerade gekaufter, lauwarmer Chickenburger von MacDoof ist doch ein angemessenes „präsento“. Ja dann: „Arigato kozaimas“ (vielen Dank) und hungrig wird das fettige Ding verschlungen. 89 Leute stehen übrigens bei „Donouts and Coffee“ an (sehen wir auf dem Weg zum WC), obwohl ein Schildhalter mit starrem Blick die Wartezeit von 45 Minuten in die Luft reckt. Heute kommt den beiden dieses Japan verdammt verrückt vor. Aber diese Verrücktheit hat auch ihr Gutes. Für knapp 30 Euro dürfen sie ab 21 Uhr im nahe gelegenen Internetcafé für 12 Stunden nächtigen. Heute erwischen sie sogar ein richtiges Zimmer, mit Tür und Dach, ohne nervtötende Kindergesangflötenmusik in Dauerschleife wie beim letzten Mal, ohne Rauch der anderen, wie beim ersten Mal und ohne Licht, wie sonst immer. Genial. Sogleich nach dem Einzug machen sie sich auf, um einmal richtig Essen zu gehen. Zwei Stockwerke höher im gleichen Komplex, in einem gediegenen, von Geschäftsleuten gut gefüllten, japanischen Restaurant. Das rohe Fleisch, das sie bestellen in der Annahme, es käme mit Stövchen und Platte zum Selbstschmoren lassen sie allerdings nach 5 Minuten nochmals zurück in die Küche gehen, damit es dort gebraten würde, doch ansonsten sind sie in diesem Moment mit sich im Reinen und wie man so schön sagt: glücklich und zufrieden. Und jetzt natürlich mächtig stolz, dem kleinen Zug der Iida-Line 25 Minuten Verspätung eingehandelt zu haben. „Prost, Akado!“

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