15.02.2010 (m) – Tujiexiang – Hongtupoxiang: 68km, 1200Hm
Die Sonne ist noch hinterm Berg versteckt, die Bewohner tummeln sich mit dicken Mützen und Jacken auf der Hauptstraße, die geradewegs durchs Dorf führt. Einige Frauen mit bunten Kopftüchern haben ihr grünes Gemüse auf Tüchern entlang der Straße ausgebreitet. Der blaue LKW mit der Frischfischlieferung, das sind zwei große, prall gefüllte Metallbecken auf der Ladefläche, parkt direkt vor unserer Nase. Mit einem großen Kescher wird die Ware entladen, geradewegs in das große Betonbecken, das sich genau dort befindet, wo ein Hotel normalerweise die Rezeption hat. Die braucht hier aber keiner, frischen Fisch schon.
China erwacht langsam wieder zum Leben. Es ist zwar erst der zweite der drei offiziellen Feiertage, aber einige Läden sind schon wieder geöffnet, der Markthandel kommt wieder ins Rollen. Nur Essen für andere wird offenbar noch nicht gekocht. Oder aber in diesem stillen Örtchen wird so was grundsätzlich nicht angeboten. Wie dem auch sei – nirgends dampft und brodelt es. So kaufen wir, was wir finden können – Chips, süßes Gebäck, einen Joghurtdrink und jede Menge Wasser und Tee. Wird schon noch was anderes angeboten werden unterwegs…Staunende Blicke geleiten uns aus dem bewohnten Gebiet, bis wir schließlich in steiler werdendem Gelände Richtung Talschluss kurbeln. Es ist noch ziemlich frisch, auch jetzt, wo sich die Sonne hervorgewagt hat. Es dauert halt, bis die Luft ihre nächtliche Kühle abgibt. Das Bergantreten beschleunigt diesen Vorgang zwar nicht, jedoch ist die gefühlte Temperatur schnell so hoch, dass wir Schicht für Schicht ablegen. Einige Weiler durchfahren wir noch, überall das gleiche Bild: geschlossene Läden, Feuerwerksmüll und kleine Grüppchen von Menschen vor den Häusern, Karten spielend, Bier trinkend oder essend. Daran zu denken, mal eine ordentliche Nudelsuppe oder ein paar Baozi am Wegesrand zur Verfügug zu stellen – glatte Fehlanzeige. Wir leben also aus unseren mit allerhand „Zuckerzeug“ gefüllten Taschen. Schmeckt nicht, ist auch nicht das, nach was uns ist, hat aber ausreichend Kalorien. Und allein das zählt.
Das Tal ist einfach herrlich. Bis weit nach oben sind die Berghänge terrassiert – ein fantastischer Anblick, der sich umso mehr verstärkt, je weiter wir dem Tal entschwinden und uns nach oben schrauben. Von weiter oben nämlich ist der Anblick nochmals um einiges imposanter. Die Straße ist perfekt in den Hang gelegt, quasi verkehrsfrei, immer mit feinstem Teer und nie zu steil – eine absolute Traumstraße! Auf halber Strecke gibt es endlich Nudeln, wenn auch nur in Form der einer Tüte entnommenen Variante. Aber Hauptsache was Herzhaftes. So gestärkt durchfliegen wir die Serpentinen fast – na ja, der neuerliche Rückensturm trägt sicher auch noch seinen Teil dazu bei. Es läuft einfach sau gut und wir jauchzen vor Freude. So was Schönes aber auch! Am Pass auf gut 2400 m.ü.N.N. bietet sich eine weiterer wunderbarer Blick ins nächste Tal und die steil aufragenden Berge. Wir stürzen uns in die Abfahrt und genießen diese in vollsten Zügen: Da riskieren wir es, eine in kaum einer Karte verzeichnete Straße zu befahren und werden mit so einer Deluxe-Variante belohnt. Hat man sich also durch die ersten 15 Kilometer gequält, dann bekommt man feinsten, neuesten Teer präsentiert. Wahnsinn!
Immer tiefer tauchen wir ab ins Tal des Lishe Jiang, der sich hundert Kilometer weiter als Roter Fluss seinen Weg bis ins Delta bei Hanoi bahnt. Jetzt ist Trockenzeit und Lishe ist dies auch. Seine Beitrag zum Roten Fluss scheint nicht der größte zu sein, kommt doch in Hanoi immer noch Wasser an, auch jetzt in diesen Minuten. Auf der anderen Hangseite sehen wir schon unser Etappenziel. Wie Alpe d’Huez trohnen einige Betonklötze in der Sonne. Die Serpentinen, die sich vom Fluss hinaufziehen sind schon gut zu erkennen und machen trotz fortgeschrittener Stunde und einigen Kilo- und Höhenmetern in den Beinen noch Lust aufs Radeln. Obwohl der Lishe Jiang also trocken gelegt ist und derzeit als Straße und auch als Anbaufläche genutzt wird, nehmen wir die Brücke, um auf die andere Seite zu gelangen. Genau am Ende dieser folgt der Schock: Kopfsteinpflaster – das Grauen eines jeden Radfahrers. „Ach, das geht sicher nur ein paar Meter bis zur ersten Kurve.“, meint Katrin. Leider kann ich da nicht beipflichten. So viel Optimismus kann ich beim besten Willen auf die Schnelle nirgends auftreiben. Aufregen, hadern, zaudern, fluchen, all das würde nichts bringen. Kostete es doch noch mehr Kraft und die wird nun gebraucht. Ich muss mich über mich selbst wundern, wie gefasst und locker ich in die Steigung einfahre. Aber tausende gefahrene Kilometer hinterlassen wohl doch irgendwann spuren. Alles reduziert sich auf die Formel: Wenn du aufhörst zu treten, bleibst du genau hier stehen. Und das willst du nicht. Und weißt du, wen es interessieren würde, bliebest du doch stehen? Absolut niemanden! Und deswegen kann man sich ein beliebiges Thema wählen, an das man schon lange mal wieder ausgiebig denken wollte und dann fährt man los. So einfach ist das – manchmal…
Wir hauen uns nach ein paar Kilometern nochmal Kekse und Nüsse rein und freuen uns immer noch über die absolut überragende Landschaft, die hier jetzt in vielen Rottönen erscheint – klar, die Sedimente sollen den Fluss ja später auch mal rot machen. Die Abendsonne lacht uns ins Gesicht und wir dürfen hier sein! Welche Bedeutung haben da ein paar sau dämlich hinter- und nebeneinander gelegte Steine? Eben. Unterwegs vergewissern wir uns noch, dass die Straße morgen bis zur Passhöhe von 2640m auf jeden Fall so bleibt, nicht, dass da jemand geteert hat – wir scheinen Glück zu haben.
Im Ort Hongtupoxiang ist selbstverständlich auch alles auf Feiertags-Sparflamme. Aber immerhin hat ein „Lüguan“ für uns geöffnet, wo sogar ein Zimmer geputzt wird, als wir unser Bleiben fest zusagen. Das Ortsrestaurant hat auch seine Tore geöffnet und als die Köchin den Schreck überwunden hat, das zwei verschwitzte, bekurzhoste Langnasen plötzlich in ihrer Küche stehen, kocht sie uns Blumenkohl, Sellerie und Ei mit Frühlingszwiebeln. Eine Schale dampfender Reis gibt Kraft für die morgen anstehenden Aufgaben. Der Rest der Dorfgemeinde begutachtet uns noch ein wenig aus der Ferne. Uns scheint, als hätten wir hier noch nicht viele Vorgänger gehabt. Aber, alle sind wie immer sehr nett, lachen, grüßen und machen ansonsten ihr Ding. Wie auch schon gestern sind wir also für eine Nacht zwei kleine Langnasen unter drei Händen voll Plattnasen irgendwo in den Bergen Yunnans.