12.06.2010 Tag 0:Zum Abschied bestellen wir uns im Restaurant um die Ecke noch einmal drei Gerichte, die uns unter anderen durch die fünf Chinamonate begleitet haben: yu xiang rous si (Fisch-duften-Fleischstreifen), gab bian tu dou si (frittierte Kartoffelraspel mit Chili, Sichuanpfeffer und frischem Koriander – wahlweise als Rösti oder als Berg) und di sian xian (Kartoffeln, Aubergine und grüne Paprika in brauner Soße). Wir sind gespannt, ob es uns gelingt, die Gerichte zu Hause originalgetreu nachzukochen. Pekings Bahnhof sieht aus wie von einem Zuckerbäcker entworfen. Auf dem Vorplatz wimmelt es zu jeder Tageszeit von Menschen. Sie schleppen Säcke, ziehen Koffer, eilen zum Zug oder vom Zug zur Metro, sitzen in Gruppen zusammen und essen oder liegen auf Zeitungspapier und warten. Ein großer Teil hat mit dem Reisen nichts am Hut, sondern verkauft Dinge, die gebraucht werden könnten. Wie jeden chinesischen Bahnhof so kann man auch diesen nur mit einer Fahrkarte und durch die Sicherheitsschleuse (Gepäckdurchleuchtung, Körperkontrolle) betreten. Wir legen also die Räder zusammen und kämpfen uns hinein. Das Innere ist allerdings modern und übersichtlich. Rolltreppen führen nach oben und schnell ist das Tor zu den Gleisen gefunden, wo in ein paar Stunden die Transsibirische Eisenbahn abfahren wird. Wir installieren uns in einer Ecke, kaufen Getränke, betrachten die olympischen Deckenfresken und warten. Mit der Zeit finden sich einige Westnasen ein. Die erste ist Helen aus Kanada, die 67 ist und mit einem britischen Pass reist, weil sie lange dort gearbeitet hat. Sie kommt von einer Reise durch Indien, Nepal und Myanmar. Allein, mit einem Koffer, einer Tasche und einem Lonely Planet – man kann also im Alter durchaus aktiv sein. Allerdings ist sie an Asien gewöhnt, da sie in einige Jahre als Freiwillige in Kambodscha gearbeitet hat – erst nach Rentenbeginn versteht sich. Als zweiter stößt Maurice zu uns. Er ist Australier, hat aber auch einen neuseeländischen Pass und sieht asiatisch aus. Lösung: Mutter Koreanerin, Vater Neuseeländer, geboren und lebend in Australien. Er trägt auch eine Ortlieb Fahrradtasche mit sich, was ihn gleich verdächtig macht. Sein Plan: von Berlin nach Wien radeln und dann Freunde in Turin besuchen. Das Fahrrad – bzw. Fahrradteile, die er dann selbst zusammenbauen kann – will er in Berlin günstig auftreiben. Zwei weitere Westlerpaare stehen im Wartehaufen, als sich die Schleusen endlich – eine gute halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges – öffnen und wir hinunter zum Gleis dürfen. Mit unseren Nahrungsvorräten für eine Woche haben wir pro Person mindestens 7 Kilo mehr und ich bin froh, dass Maurice noch eine Hand frei hat und eine Tasche von mir nimmt. Wenigstens ist es nicht so weit bis zu unserem Waggon und die streng blickende, rothaarige „provotni“ (rote Haare haben sie übrigens alle) und der noch angenervter schauende, junge, aber dickbauchige „provotni“ gewähren uns Zugang zu unserem Abteil. Na, den spröden Charme (wobei man den Charme wirklich suchen muss) kennt man ja von den Russen, die werden schon noch ein wenig auftauen! Das Verstauen von Gepäck und Rädern ist dann mit Abstand das Schweißtreibendste, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Durch eingebaute Fächer unter der Sitzbank und den Fuß des Klapptisches ist es fast unmöglich ein Rad zu verstauen. Meines passt wenigstens wieder in das Fach unter der Decke, auch wenn wir es fast nicht geglaubt hätten, da ein fest montierter Fernseher im Weg hängt. Ohne Sattel passt Molle Rad dann gerade so flach auf den Boden zwischen unsere Sitzbänke. Die Sauna setzt sich in Bewegung. Und schon springt die Klimaanlage an – ganz schlecht für tropfnassgeschwitzte Menschen. Das Leintuch, das die Provotni gerade gebracht hat eignet sich wunderbar zum Zustopfen!Der Zug rollt um 23 Uhr ruhig aus der Millionenstadt und es beginnt leicht zu regnen. Welch eine Symbolik! Wir klappen die Sitzlehnen, die gleichzeitig das Bett sind herunter und bereiten das Schlafgemach. Das Abteil ist gemütlich und modern, die Sitze sind hart und sauber wie neu, die Schlafmatratze sehr bequem. Wäre jetzt anstatt des schwachsinnigen Fernsehers, auf dem vielleicht mal in zwei Tagen irgendwelche russischen Unterhaltungsfilme laufen, die keiner sehen will, eine Steckdose im Abteil angebracht – der Luxus wäre perfekt! Der Zug fährt nach Osten. Tianjin ist der erste Halt, doch da sind wir schon im Tiefschlaf versunken.13.06.2010, Tag 1Der Tag und damit unsere einwöchige Zugroutine beginnt. Baguette, Schokocreme, Marmelade, Müsli, Flakes, Milch, Saft – ruckzuck steht ein ausgewogenes Frühstück auf dem Tisch. China nördlich von Shanyang sieht folgendermaßen aus: große, bewässerte Reisfelder so weit das Auge reicht. Manchmal auch ein paar grüne Hügel oder auch großflächige Maisfelder. Die Straßen sind von Pappelalleen gesäumt. Die Städte, typisch chinesisch: groß im Bau. Hochhausriesen werden in Reihe gesetzt wie Rettichsamen, Kräne stehen wie Flamingos auf der Suche nach Futter herum. In diesem Landesteil hatten wir viel mehr Industrie erwartet. Zumindest von der Zugstrecke aus sieht man kaum welche. Nur ab und an raucht ein Schlot in der Ferne. Dennoch scheint die Gegend nicht so attraktiv zum Fahradfahren. Es ist doch sehr weitläufig, windig und wenig spektakulär. Nachdem wir Harbin passiert haben, verändert sich die Landschaft allmählich. Wir wechseln in die Provinz „Innere Mongolei“. Und der Name scheint Programm zu sein: ein Grasland das am Horizont verschwindet breitet sich zu beiden Seiten des Zuges aus. Irgendjemand hat schöne Hügel und kleine Berge hinmodelliert und hier und da steht eine Jurte. Ein paar weiße Schäfchen schlafen am blauen Himmel und das Licht ist so einmalig mongolisch. Die Natur kennt keine Landesgrenzen. Auf unserem Speiseplan steht für heute Abend „große Brotzeit“. Also finden Illertaler, Camenbert, Salami und Brot den Weg in unsere Mägen. Wer weiß, vielleicht darf man sowieso nichts Frisches ins Nachbarland einführen, und bevor uns die Russen heute Nacht unsere Vorräte wegnehmen, vernichten wir sie lieber selbst. „La misma luna“ läuft heute in Abteil Nummer 5. Wenn man traurig ist weil man jemanden vermisst, der weit weg ist, so soll man einfach den Mond ansehen, denn den sieht der andere auch und man ist mit ihm verbunden, so die schöne Quinessenz des Films. Um 3.27 Uhr erreichen wir die Grenze zwischen China und Russland. Es ist zwar schon hell, doch alle Beteiligten scheinen noch recht müde. Die chinesischen Grenzbeamtinnen sammeln die Pässe ein, um uns auszustempeln. Dann werden alle Passagiere aus dem Zug geschickt. Im Bahnhof kann man noch sein restliches chinesisches Geld ausgeben oder beim Wechselhai in Rubel tauschen, was wir machen. Knapp vier Stunden dauert die Aktion auf chinesischer Seite. Durch zwei bombastische Tore rollt der Zug dem kommunistischen Partner entgegen. Wir winken noch ein paar chinesischen Arbeitern zu, dann schluckt uns Russland. Hier folgt der zweite, aufwändigere Teil des Grenzübertritts. Zuerst kommt der Passmann, er kontrolliert sehr genau und vergleicht mit professionellem Blick die Passbilder mit unseren Gesichtern. Dann kommt der Verschlägemann – er kontrolliert die Fächer, doppelten Decken und Böden der Abteile. Dazu muss er natürlich nach oben steigen und was eignet sich dazu besser, als den ersten Schritt auf Molles Hinterrad und den zweiten auf das ausgebaute Vorderrad zu setzen. Ist ja nur ein Fahrrad, das da am Boden liegt, gell. Gottseidank ist der kahlgeschorene, bucklige Typ, mit seinen dünnen, krummen Stöckchenbeinen kaum schwerer als geschätzte 46,5 Kilo. Als nächstes kommen die Gepäckfrauen. Sie lassen sich den Inhalt einiger unserer Taschen zeigen, doch was sie sehen, scheint sie nicht zu verunsichern und sie geben sich zufrieden. Als letztes kommt die Zolldame. Wir haben unsere Deklaration nicht richtig ausgefüllt. Anstelle der Laptops, die wir angegeben haben, müssen wir die Fahrräder deklarieren. Also füllen wir nochmals die Formulare in doppelter Ausführung aus und nachdem s
ie ordnungsgemäß gestempelt sind, ist auch die Zolldame zufrieden. Für das Essen interessiert sich wenigstens keiner. Wir fragen uns daher, warum uns die russische Nachbarsfrau kurz vor der Kontrolle noch vier chinesische Instantnudelpäckchen in die Hand drückt, die wir für sie durchbringen sollen. Zuerst kommt sie mit einer Plastiktüte voll weiß nicht was an, die können wir noch abwehren, doch bei den Suppen wollen wir dann nicht so hart sein. Als die Päckchen dann allerdings so auf unserem Tisch liegen, kommen uns Zweifel. Warum vier Suppen? Vielleicht kommt jetzt gleich der Drogenmann mit Hund und findet das in die Suppen eingeschweißte Kokain und wir können froh sein, wenn wir mit lebenslang im russischen Gefängnis davon kommen!? Man soll doch nie was von Fremden über die Grenze mitnehmen! Zum Zurückgeben sind wir nun allerdings auch zu feige. Da fällt uns ein, dass wir noch exakt die gleichen Tütensuppen in unseren Vorräten haben. Schnell öffnen wir ein Päckchen und kontrollieren den Inhalt. Es ist tatsächlich nur eine profane Rindfleischnudelsuppe. Puh. Wir tauschen die offene Suppe aus und legen vor dem Verlassen des Zuges die vier Suppen vor das Abteil der Nachbarin. Drogenmann kam keiner mehr.Vier Stunden haben wir, um die kleine Grenzstadt unsicher zu machen. Während dieser Zeit wird das Fahrwerk des Zuges ausgetauscht, da Russland und China nicht die gleichen Gleisabstände haben. Mit Maurice und Helen schlendern wir die Hauptstraße auf und ab. Jeder mit einem kühlen Bier in der Hand erkunden wir auch die staubigen Nebenstraßen, wo die paar Wohnblöcke schon wieder in kleine, dörfliche Holzhäuser übergehen. Hat es nicht geheißen, in Russland sind alle schon morgens besoffen? Da wollten wir dabei sein! Doch da sollen wir wohl etwas falsch verstanden haben. Die einzigen, die hier wie Penner mit Alkohol herumlaufen, sind wir. Wir sind in Russland: Schlagartig ist das Straßenbild russisch: Kleinwägen und Kleinbusse, die aussehen, wie aus den späten 60gern, Gemüseomis mit bunten Kopftüchern, viel zu junge Mamis mit viel zu wenig an und Männer im Muskelshirt, Kurzhaarschnitt und einem Blick zum Verlieben. Nein, nein, nicht alle! Manche grüßen sogar und einer wirft uns ein „welcome to Russia“ entgegen. Wir kaufen nochmals eine Runde kühles Gold und setzen uns – ganz klassisch – am Bahnhof auf ein Mäuerchen im Schatten. Wir unterhalten uns über die politische Situation in Korea, über Fahrräder mit Elektromotor und die Abartigkeit manch mächtiger Personen. Welch ein Frühstück. Pünktlich um 9.oo Uhr russischer Zeit (also schon mittags um eins für uns) kommt der Zug zurück. Bedudelt schwanken wir in die Kabine, schlabbern unser Frühstück und schieben ein Stündchen Mittagsschlaf ein.Den Rest des Tages verbringen wir mit Lesen und aus dem Fenster gucken. Die Landschaft ist ziemlich attraktiv. Hier hat sie noch einen mongolischen Charakter. Besiedelung gibt es nicht allzu viel, Sandpisten verbinden die Dörfer, die allerdings schon aus typisch sibirischen Holzhäusern bestehen. Mit unseren Schweizer Nachbarn haben wir immer noch fast kein Wort gewechselt, der Funke will nicht so Recht überspringen. Alle anderen Westnasen sind in der zweiten Klasse, doch heute ist sowieso jeder zu müde, noch irgendeine Aktion zu starten. Das Abendessen setzt ein Highlight: Gnocchi mit All’rabiatta Sauce. Nach dreimaligem Übergießen mit kochendem Wasser sind die kleinen Klöße durch. Die Sauce im Wasserbad erhitzt, Illertaler drüber und fertig ist das Festessen.
Tag 2 – 6:Manch einer mag sich vielleicht fragen, wie man es eine Woche im Zug aushalten kann. Was man die ganze Zeit macht, womit man die Zeit totschlägt, ob es nicht langweilig wird. Wir können es zwar nicht ganz mit der Aussage meiner Großmutter halten, die einmal meinte: „Ich sehe immer aus dem Fenster, wenn ich Zug fahre.“ Die Betonung lag auf „immer“, mit dem Zusatz, dass sie die Leute, die ihre Nase während der Fahrt in Zeitschriften oder Bücher stecken, gar nicht verstehen könne.Nichtsdestotrotz nimmt „aus dem Fenster schauen“ einen durchaus großen Raum ein. Vor allem in den ersten drei Tagen. Die Landschaft ist unerwartet abwechslungsreich. Zunächst mongolisch-karg, dann frisches Grün mit kleinen Dörfern aus Holzhäusern. Vom Zug aus sehen sie mit ihren rauchenden Schloten und ihren speziellen Formen, Farben und Verzierungen so malerisch und idyllisch aus, dass man am liebsten aussteigen und hier einziehen möchte. Geblendet ist man in diesem Moment und sieht nicht die sicherlich karge Lebensweise, die langen, eisigen, dunklen Winter, die Horden von Moskitos, die mangelnde kulturelle Anregung, die schlechte Anbindung an die nächste Stadt. Ein Höhepunkt folgt am dritten Tag. Plötzlich blitzt es tiefblau durchs kleine, lichte Birkenwäldchen: der Baikalsee. Die ersten Fotografieversuche aus dem Zug heraus sind einmal mehr überflüssig, fahren wir doch ein paar Stunden direkt am Ufer entlang und können immer wieder neue Blicke auf die Buchten, Strände, Dörfer und die gegenüberliegende Steilküste werfen. Die Berge, die wir kurz zuvor noch in der Ferne stehen sahen, sind hier sehr nah herangerückt. Die Schneefelder in den Höhen laden zum Firngleiterfahren ein. Wir hatten gar nicht im Kopf, dass es hier ein richtiges Gebirge hat. Die drei letzten Tage sind auch nicht uninteressant, vor allem, wenn wir die sibirischen Dörfer und ihre Menschen vorbeiflitzen sehen, wenn es über Flüsse geht oder wir die Autos auf den Straßen oder vor den Bahnschranken analysieren können. Landschaftlich allerdings überwiegt jetzt Wald, in erster Linie Birkenwald. Und je näher der ist, desto weniger sieht man logischerweise. Deshalb stecken wir unsere Nase auch ab und an in Bücher oder Zeitungen, in moderner Form allerdings, das heißt in den Computer. Auch Musik und Hörbücher haben wir dabei, doch die Zeit vergeht so schnell, wir schaffen nicht einmal ein Hörbuch. Abends gibt es einen Kinofilm, er kommt ebenfalls aus dem modernen „Buch“ oder der „Zeitung“ oder dem „Radio“ – das ist eindeutig der Vorteil des Multimediareisens. Am dritten Abend läuft Maurice auf dem Weg zum Speisewagen an uns vorbei und wir laden ihn ein, das geplante Bier doch bei uns im Abteil zu trinken. Als kurz später das englisch-norwegische Pärchen kommt, sind wir schon fünft. Der Zug stoppt kurz später und wir steigen für eine halbe Stunde aus. Chris und seine Freundin schaffen den Rückweg von Waggon 2 zu uns in Waggon 5 danach nicht mehr, sie sind bei ihrem Wodka hängengeblieben. So sitzen wir gerade wieder mit Maurice im Abteil, als der „Nachbarrusse“ mit drei Dosen Bier in der Hand hereinstolpert und sich auf den Sitz fallen lässt. Er scheint seit der Abfahrt in Peking betrunken zu sein, zumindest haben wir ihn immer nur zum Rauchen und zurück in sein Abteil schwanken sehen. Im Pyjama versteht sich. Jetzt ist sein Zustand allerdings nicht so übel, er ist vielmehr in Feierlaune. „Als Vladislav“ stellt er sich vor und wir erfahren, dass er für die Regierung arbeitet und zwar im Metier „chinese-russian relationships“. Ja, da haben wir die Basis des russisch-chinesischen Dialogs ja schon enttarnt. Auf so eine Freundschaft muss man doch mit einem Zahnputzbecher Reisschnaps, einem Plastikbecher voll Wodka oder zumindest ein paar Dosen Bier anstoßen. Dann klappt’s auch mit der Verständigung. Aber nein, ohne Spaß. Vladislav kann perfekt Chinesisch, den Lesetest besteht er an unserer Speisekarte auch und er spricht ebenso hervorragend Englisch. So könnte es ein lustiger, interessanter Abend werden, doch kurze Zeit nach Vladi erscheint „Dima“, einer der Betreiber des russischen Speisewagens, oder ist es mehr ein Barwagen. Dima ist ein kahlgeschorener, dünner, doch muskelbepackter junger Mann im Shirt, das eben jene betonen soll, der auf den ersten Blick aufgrund seiner vielen Tätowierungen am Arm furchteinflößend wirkt. Gar nicht zu ihm zu passen scheint daher sein freundliches Lachen, dass das ganze Gesicht einnimmt und sogar die Augen zum Leuchten bringt. Mit Dima im Abteil tauscht der Abend sein Adjektiv „interessant“ in „abgefahren“ und fügt dem „lustig“ noch ein „schaurig“ dazu. Wir sitzen mit einem russischen Regierungsbeamten (der übrigens genauso alt ist wie wir) und einem – vielleicht etwas jüngeren – russischen Nazi da und trinken ein Dosenbier nach dem anderen. Das erste, was Dima macht, ist sein Muskelshirt zu lüften und uns stolz seine SS-Tätowierung verbunden mit einem Hitlergruß zu präsentieren. Alles natürlich mit breitestem Grinsen, was es schon „strange“ genug macht. Nur, dass er dann noch ständig mit Maurice – offensichtlich koreanischer Abstammung – Arm in Arm posiert, ist der Höhepunkt der Skurrilität. Was ist die Menschenspezies doch unergründlich. Dieser übertrieben gesagt „kleine, strahlende Junge“, der hier mit uns feiert – wie anders verhält er sich wohl in einer Gruppe, die auch dieses schändliche Erkennungszeichen trägt? Wie gefährlich kann er werden? Wie pervers ist es, dass ihm das Bier hier mit einem schmeckt, dem er vielleicht an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt in einer anderen Gruppe den Schädel eintreten würde? Was sind Gruppen – de facto auch Staaten, Völker, Stämme, Familien – mit denen sich der Mensch stets zu identifizieren versucht, wie können sie es immer wieder schaffen, dass das ganz natürliche Miteinander, die basale Menschlichkeit aus den Angeln gehoben wird? Wann kippt der Schalter? Und warum? Aus dem Gefängnis stammen Dimas weitere Tätowierungen: eines bedeutet wohl, dass er einen Menschen auf dem Gewissen hat, eines – eine auf den Rücken gebrannte Zielscheibe – dass er deshalb unter Beobachtung steht. Hier wäre es jetzt interessant, mehr über die Zustände in russischen Gefängnissen zu erfahren und über die Zustände, die ihn dahin brachten, doch da der Abend sein Prädikat „interessant“ abgegeben hat, bleibt das unser gesamtes Wissen über Dima. Unser Vertrauen in ihn steigt nicht gerade, wenn er auch – ganz ohne dieses Hintergrundwissen gesehen – ein sympathischer, fröhlicher Bursche ist. Wir sind daher froh, dass Maurice uns die nächsten Stunden mit seiner Gesellschaft beglückt, damit wir nicht allein mit den beiden sind. Dima muss nach einiger Zeit wohl noch ein wenig arbeiten und geht, doch Vladi fühlt sich wohl bei uns und wir führen lustige Gespräche und hören seine Lieblingsmusik () vom Handy. Vladislav würde übrigens lieber von seinem Arbeitsplatz in Harbin (China) nach Hause nach Krasnojarsk (Rus) fliegen, doch sein Arbeitskollege, mit dem er das Abteil teilt, fliegt nicht. Daher müssen sie Zug fahren – wahrscheinlich hat der ältere Kollege die Freiheit zu bestimmen, wie gereist wird. Er scheint auch die Freiheit zu haben darüber zu bestimmen, wann Vladislav endlich schlafen geht. Es kostet ihn zwar einige Anläufe, doch beim dritten wirkt er sehr sauer und sehr bestimmt. Er wolle schließlich schlafen und überhaupt, was uns denn einfalle, ob wir denn nicht schlafen wollten? Ja, da sitzen zufällig ein Typ bei uns im Abteil. Darüber hinaus auch der gesamte Vorrat an Dosenbier, den Vladi dem Restaurantwaggon aufgekauft hat. Wir werfen einen Gast ja nicht einfach hinaus. Das hat der Kollege wohl auch erkannt, der schließlich droht, Vladis Ehefrau anzurufen (Vladi hat am Nachmittag nur mal eben die Gunst der Stunde genutzt und sich mit der Schwester Dimas, die seine Muskelmasse auf Brusthöhe trägt, im Abteil neben uns vergnügt. Auf der Flucht vor weiteren diesbezüglichen Verpflichtungen ist er dann übrigens in unser Abteil ge
plumpst. Na, ob es die Ehefrau Nummer vier (Vladis Aussage zufolge – doch dabei bleibt unklar ob nacheinander oder gleichzeitig) überhaupt noch vom Hocker reißen würde? Letztlich schafft es Vladi doch aus unserem Abteil hinaus, vielleicht auch nach den Drohungen Dimas, der sich nun auf die Seite des Kollegen geschlagen hat und mit ein, zwei Boxschlägen gegen unsere Kopflehne seine Entschlossenheit zur Räumung demonstriert. „Lock your door!“ – das ist der Tipp von Maurice, als er seinen Rückweg zu Waggon Nummer 2 einschlägt. Der enge Zugflur und die vorgegebene Richtung werden ihm helfen, sein Ziel zu erreichen. Wir folgen seinem Rat. Dieser Abend bleibt der einzige, den wir in Gesellschaft verbringen. Vladi ist am nächsten Morgen schon ausgestiegen (worden) und Dima allein sucht nicht unsere Nähe. Er könnte sich auch nicht verständigen. Wir sind nun die einzigen Fahrgäste in unserem Waggon für die restlichen Tage. Die anderen Westnasen tauchen abends auch nicht mehr auf – Chris packt es (nach der Wodkanacht mit seiner Frau) bei einem Halt am Bahnsteig und unserer Nachfrage, wie es ihm gehe, in die Worte des „am nächsten Tag Leidenden“: „no more drinking on the train“. Was sind wir froh, das Vladi Dosenbier und nicht Wodka angeschleppt hatte! Essen ist sowieso die viel bessere Beschäftigung. Und hier sind wir ja immer gut! Also mit Essen gehen schon auch ein paar Stunden drauf. Und so kommt es, dass wir nach sechs Tagen und sechs Nächten in Moskau einrollen und uns wundern, wo die letzte Woche hin ist. Die Ticketübergabe für unseren Zug nach St. Petersburg und den nach Finnland verzögert sich etwas, doch eine halbe Stunde nach unserer Ankunft kommen die Botinnen von „Real Russia“ und händigen uns die neuen Fahrscheine aus. Sechs Stunden gilt es zu überbrücken. Wir gehen in eine Pizzeria, die zwischen den beiden Bahnhöfen „Jaroslavsky“ und „Leningradsky“ liegt. Durch das große Fenster können wir das Treiben auf dem Vorplatz gut beobachten. Nach einer Stunde fühle ich mich so weit hinuntergezogen, dass es besser ist, zu gehen. Hier sammelt sich alles, was Probleme hat, so scheint es. Bahnhöfe sind dafür ja bekanntlich prädestiniert. Die alte Wodkatruppe mit den zerfurchten, abgelebten Gesichtern freut sich an den Erzählungen ihres jungen Mitglieds. Ein Mann von höchstens 23 mit schlecht verheilter Platzwunde an der Augenbraue. Er kann kaum noch gerade stehen, doch er kippt das Wahnsinnsgetränk wie Wasser hinunter. Was ist nur schiefgelaufen, frage ich mich. Stolz zeigt er ein paar Fotos herum. Ein etwa vierjähriges Mädchen lacht darauf schüchtern in die Kamera. Was ist nur schiefgelaufen? Ein Mütterlein im roten Wollpulli steht kerzengerade da. Sie trägt einen Rucksack und Turnschuhe. In jeder Hand hält sie einen Schuh zum Verkauf bereit: weißer Ballerina oder brauner Stöckelschuh? Fast bin ich versucht, hinauszugehen, es ist ja nicht mit anzusehen. Doch plötzlich ist sie aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Mann wirft eine Dose in den Mülleimer vor dem Metroeingang. Halt, will ich rufen, soeben war der Dosensammler da! Doch es dauert nicht lange, und es freut sich ein nächster. Die Wartehalle des Leningradsky ist voller Reisender. Alle halbe Stunde fährt ein Zug nach Sankt Petersburg, doch wir haben eine Buchung für ein Uhr nachts. Auch hier vertreibt uns das Menschenbeobachten die Wartezeit. Gegen Mitternacht kommen immer mehr sehr junge Mädchen und Jungs in Militäruniform. Ihre Unterhemden sind blau-weiß geringelt, wir tippen auf angehende Matrosen. Doch uns verwundert, wie jung sie sind. Die Mädchen erinnern uns im Verhalten und vom Aussehen her vollkommen an unsere Schüler. Player hören, affektiert dazu tanzen, kichern, riesige Ohrringe tragen, hysterisch aufschreien, … die volle Palette. Das seltsame an dieser Gruppe, die aussieht, als führe sie auf Klassenfahrt sind lediglich die Tarnuniformen und die erwachsenen Generäle oder was auch immer, die dabeistehen und sogar für den einen und anderen Scherz zu haben sind. Schließlich ist es geschafft. Der Zug rollt ein. Wir beziehen unser gemütliches Abteil. Es ist diesmal von der alten Sorte und lässt uns in Erinnerung schwelgen. In exakt so einem Abteil sind wir im August von Moskau nach Almaty gefahren! Die Kissen sind liebevoll drapiert, die Handtücher hängen bereit, im Klo liegt ein roter Teppich aus. Lass uns nochmal losfahren!
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Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Peking nach Moskau – 12.-18.06.2010
12.06.2010 Tag 0:
Zum Abschied bestellen wir uns im Restaurant um die Ecke noch einmal drei Gerichte, die uns unter anderen durch die fünf Chinamonate begleitet haben: yu xiang rous si (Fisch-duften-Fleischstreifen), gab bian tu dou si (frittierte Kartoffelraspel mit Chili, Sichuanpfeffer und frischem Koriander – wahlweise als Rösti oder als Berg) und di sian xian (Kartoffeln, Aubergine und grüne Paprika in brauner Soße). Wir sind gespannt, ob es uns gelingt, die Gerichte zu Hause originalgetreu nachzukochen.
Pekings Bahnhof sieht aus wie von einem Zuckerbäcker entworfen. Auf dem Vorplatz wimmelt es zu jeder Tageszeit von Menschen. Sie schleppen Säcke, ziehen Koffer, eilen zum Zug oder vom Zug zur Metro, sitzen in Gruppen zusammen und essen oder liegen auf Zeitungspapier und warten. Ein großer Teil hat mit dem Reisen nichts am Hut, sondern verkauft Dinge, die gebraucht werden könnten. Wie jeden chinesischen Bahnhof so kann man auch diesen nur mit einer Fahrkarte und durch die Sicherheitsschleuse (Gepäckdurchleuchtung, Körperkontrolle) betreten. Wir legen also die Räder zusammen und kämpfen uns hinein. Das Innere ist allerdings modern und übersichtlich. Rolltreppen führen nach oben und schnell ist das Tor zu den Gleisen gefunden, wo in ein paar Stunden die Transsibirische Eisenbahn abfahren wird. Wir installieren uns in einer Ecke, kaufen Getränke, betrachten die olympischen Deckenfresken und warten. Mit der Zeit finden sich einige Westnasen ein. Die erste ist Helen aus Kanada, die 67 ist und mit einem britischen Pass reist, weil sie lange dort gearbeitet hat. Sie kommt von einer Reise durch Indien, Nepal und Myanmar. Allein, mit einem Koffer, einer Tasche und einem Lonely Planet – man kann also im Alter durchaus aktiv sein. Allerdings ist sie an Asien gewöhnt, da sie in einige Jahre als Freiwillige in Kambodscha gearbeitet hat – erst nach Rentenbeginn versteht sich. Als zweiter stößt Maurice zu uns. Er ist Australier, hat aber auch einen neuseeländischen Pass und sieht asiatisch aus. Lösung: Mutter Koreanerin, Vater Neuseeländer, geboren und lebend in Australien. Er trägt auch eine Ortlieb Fahrradtasche mit sich, was ihn gleich verdächtig macht. Sein Plan: von Berlin nach Wien radeln und dann Freunde in Turin besuchen. Das Fahrrad – bzw. Fahrradteile, die er dann selbst zusammenbauen kann – will er in Berlin günstig auftreiben. Zwei weitere Westlerpaare stehen im Wartehaufen, als sich die Schleusen endlich – eine gute halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges – öffnen und wir hinunter zum Gleis dürfen.
Mit unseren Nahrungsvorräten für eine Woche haben wir pro Person mindestens 7 Kilo mehr und ich bin froh, dass Maurice noch eine Hand frei hat und eine Tasche von mir nimmt. Wenigstens ist es nicht so weit bis zu unserem Waggon und die streng blickende, rothaarige „provotni“ (rote Haare haben sie übrigens alle) und der noch angenervter schauende, junge, aber dickbauchige „provotni“ gewähren uns Zugang zu unserem Abteil. Na, den spröden Charme (wobei man den Charme wirklich suchen muss) kennt man ja von den Russen, die werden schon noch ein wenig auftauen! Das Verstauen von Gepäck und Rädern ist dann mit Abstand das Schweißtreibendste, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Durch eingebaute Fächer unter der Sitzbank und den Fuß des Klapptisches ist es fast unmöglich ein Rad zu verstauen. Meines passt wenigstens wieder in das Fach unter der Decke, auch wenn wir es fast nicht geglaubt hätten, da ein fest montierter Fernseher im Weg hängt. Ohne Sattel passt Molle Rad dann gerade so flach auf den Boden zwischen unsere Sitzbänke. Die Sauna setzt sich in Bewegung. Und schon springt die Klimaanlage an – ganz schlecht für tropfnassgeschwitzte Menschen. Das Leintuch, das die Provotni gerade gebracht hat eignet sich wunderbar zum Zustopfen!
Der Zug rollt um 23 Uhr ruhig aus der Millionenstadt und es beginnt leicht zu regnen. Welch eine Symbolik! Wir klappen die Sitzlehnen, die gleichzeitig das Bett sind herunter und bereiten das Schlafgemach. Das Abteil ist gemütlich und modern, die Sitze sind hart und sauber wie neu, die Schlafmatratze sehr bequem. Wäre jetzt anstatt des schwachsinnigen Fernsehers, auf dem vielleicht mal in zwei Tagen irgendwelche russischen Unterhaltungsfilme laufen, die keiner sehen will, eine Steckdose im Abteil angebracht – der Luxus wäre perfekt! Der Zug fährt nach Osten. Tianjin ist der erste Halt, doch da sind wir schon im Tiefschlaf versunken.
13.06.2010, Tag 1
Der Tag und damit unsere einwöchige Zugroutine beginnt. Baguette, Schokocreme, Marmelade, Müsli, Flakes, Milch, Saft – ruckzuck steht ein ausgewogenes Frühstück auf dem Tisch.
China nördlich von Shanyang sieht folgendermaßen aus: große, bewässerte Reisfelder so weit das Auge reicht. Manchmal auch ein paar grüne Hügel oder auch großflächige Maisfelder. Die Straßen sind von Pappelalleen gesäumt. Die Städte, typisch chinesisch: groß im Bau. Hochhausriesen werden in Reihe gesetzt wie Rettichsamen, Kräne stehen wie Flamingos auf der Suche nach Futter herum. In diesem Landesteil hatten wir viel mehr Industrie erwartet. Zumindest von der Zugstrecke aus sieht man kaum welche. Nur ab und an raucht ein Schlot in der Ferne. Dennoch scheint die Gegend nicht so attraktiv zum Fahradfahren. Es ist doch sehr weitläufig, windig und wenig spektakulär.
Nachdem wir Harbin passiert haben, verändert sich die Landschaft allmählich. Wir wechseln in die Provinz „Innere Mongolei“. Und der Name scheint Programm zu sein: ein Grasland das am Horizont verschwindet breitet sich zu beiden Seiten des Zuges aus. Irgendjemand hat schöne Hügel und kleine Berge hinmodelliert und hier und da steht eine Jurte. Ein paar weiße Schäfchen schlafen am blauen Himmel und das Licht ist so einmalig mongolisch. Die Natur kennt keine Landesgrenzen. Auf unserem Speiseplan steht für heute Abend „große Brotzeit“. Also finden Illertaler, Camenbert, Salami und Brot den Weg in unsere Mägen. Wer weiß, vielleicht darf man sowieso nichts Frisches ins Nachbarland einführen, und bevor uns die Russen heute Nacht unsere Vorräte wegnehmen, vernichten wir sie lieber selbst. „La misma luna“ läuft heute in Abteil Nummer 5. Wenn man traurig ist weil man jemanden vermisst, der weit weg ist, so soll man einfach den Mond ansehen, denn den sieht der andere auch und man ist mit ihm verbunden, so die schöne Quinessenz des Films.
Um 3.27 Uhr erreichen wir die Grenze zwischen China und Russland. Es ist zwar schon hell, doch alle Beteiligten scheinen noch recht müde. Die chinesischen Grenzbeamtinnen sammeln die Pässe ein, um uns auszustempeln. Dann werden alle Passagiere aus dem Zug geschickt. Im Bahnhof kann man noch sein restliches chinesisches Geld ausgeben oder beim Wechselhai in Rubel tauschen, was wir machen. Knapp vier Stunden dauert die Aktion auf chinesischer Seite. Durch zwei bombastische Tore rollt der Zug dem kommunistischen Partner entgegen. Wir winken noch ein paar chinesischen Arbeitern zu, dann schluckt uns Russland. Hier folgt der zweite, aufwändigere Teil des Grenzübertritts. Zuerst kommt der Passmann, er kontrolliert sehr genau und vergleicht mit professionellem Blick die Passbilder mit unseren Gesichtern. Dann kommt der Verschlägemann – er kontrolliert die Fächer, doppelten Decken und Böden der Abteile. Dazu muss er natürlich nach oben steigen und was eignet sich dazu besser, als den ersten Schritt auf Molles Hinterrad und den zweiten auf das ausgebaute Vorderrad zu setzen. Ist ja nur ein Fahrrad, das da am Boden liegt, gell. Gottseidank ist der kahlgeschorene, bucklige Typ, mit seinen dünnen, krummen Stöckchenbeinen kaum schwerer als geschätzte 46,5 Kilo. Als nächstes kommen die Gepäckfrauen. Sie lassen sich den Inhalt einiger unserer Taschen zeigen, doch was sie sehen, scheint sie nicht zu verunsichern und sie geben sich zufrieden. Als letztes kommt die Zolldame. Wir haben unsere Deklaration nicht richtig ausgefüllt. Anstelle der Laptops, die wir angegeben haben, müssen wir die Fahrräder deklarieren. Also füllen wir nochmals die Formulare in doppelter Ausführung aus und nachdem sie ordnungsgemäß gestempelt sind, ist auch die Zolldame zufrieden. Für das Essen interessiert sich wenigstens keiner. Wir fragen uns daher, warum uns die russische Nachbarsfrau kurz vor der Kontrolle noch vier chinesische Instantnudelpäckchen in die Hand drückt, die wir für sie durchbringen sollen. Zuerst kommt sie mit einer Plastiktüte voll weiß nicht was an, die können wir noch abwehren, doch bei den Suppen wollen wir dann nicht so hart sein. Als die Päckchen dann allerdings so auf unserem Tisch liegen, kommen uns Zweifel. Warum vier Suppen? Vielleicht kommt jetzt gleich der Drogenmann mit Hund und findet das in die Suppen eingeschweißte Kokain und wir können froh sein, wenn wir mit lebenslang im russischen Gefängnis davon kommen!? Man soll doch nie was von Fremden über die Grenze mitnehmen! Zum Zurückgeben sind wir nun allerdings auch zu feige. Da fällt uns ein, dass wir noch exakt die gleichen Tütensuppen in unseren Vorräten haben. Schnell öffnen wir ein Päckchen und kontrollieren den Inhalt. Es ist tatsächlich nur eine profane Rindfleischnudelsuppe. Puh. Wir tauschen die offene Suppe aus und legen vor dem Verlassen des Zuges die vier Suppen vor das Abteil der Nachbarin. Drogenmann kam keiner mehr.
Vier Stunden haben wir, um die kleine Grenzstadt unsicher zu machen. Während dieser Zeit wird das Fahrwerk des Zuges ausgetauscht, da Russland und China nicht die gleichen Gleisabstände haben. Mit Maurice und Helen schlendern wir die Hauptstraße auf und ab. Jeder mit einem kühlen Bier in der Hand erkunden wir auch die staubigen Nebenstraßen, wo die paar Wohnblöcke schon wieder in kleine, dörfliche Holzhäuser übergehen. Hat es nicht geheißen, in Russland sind alle schon morgens besoffen? Da wollten wir dabei sein! Doch da sollen wir wohl etwas falsch verstanden haben. Die einzigen, die hier wie Penner mit Alkohol herumlaufen, sind wir. Wir sind in Russland: Schlagartig ist das Straßenbild russisch: Kleinwägen und Kleinbusse, die aussehen, wie aus den späten 60gern, Gemüseomis mit bunten Kopftüchern, viel zu junge Mamis mit viel zu wenig an und Männer im Muskelshirt, Kurzhaarschnitt und einem Blick zum Verlieben. Nein, nein, nicht alle! Manche grüßen sogar und einer wirft uns ein „welcome to Russia“ entgegen. Wir kaufen nochmals eine Runde kühles Gold und setzen uns – ganz klassisch – am Bahnhof auf ein Mäuerchen im Schatten. Wir unterhalten uns über die politische Situation in Korea, über Fahrräder mit Elektromotor und die Abartigkeit manch mächtiger Personen. Welch ein Frühstück. Pünktlich um 9.oo Uhr russischer Zeit (also schon mittags um eins für uns) kommt der Zug zurück. Bedudelt schwanken wir in die Kabine, schlabbern unser Frühstück und schieben ein Stündchen Mittagsschlaf ein.
Den Rest des Tages verbringen wir mit Lesen und aus dem Fenster gucken. Die Landschaft ist ziemlich attraktiv. Hier hat sie noch einen mongolischen Charakter. Besiedelung gibt es nicht allzu viel, Sandpisten verbinden die Dörfer, die allerdings schon aus typisch sibirischen Holzhäusern bestehen. Mit unseren Schweizer Nachbarn haben wir immer noch fast kein Wort gewechselt, der Funke will nicht so Recht überspringen. Alle anderen Westnasen sind in der zweiten Klasse, doch heute ist sowieso jeder zu müde, noch irgendeine Aktion zu starten. Das Abendessen setzt ein Highlight: Gnocchi mit All’rabiatta Sauce. Nach dreimaligem Übergießen mit kochendem Wasser sind die kleinen Klöße durch. Die Sauce im Wasserbad erhitzt, Illertaler drüber und fertig ist das Festessen.
Tag 2 – 6:
Manch einer mag sich vielleicht fragen, wie man es eine Woche im Zug aushalten kann. Was man die ganze Zeit macht, womit man die Zeit totschlägt, ob es nicht langweilig wird. Wir können es zwar nicht ganz mit der Aussage meiner Großmutter halten, die einmal meinte: „Ich sehe immer aus dem Fenster, wenn ich Zug fahre.“ Die Betonung lag auf „immer“, mit dem Zusatz, dass sie die Leute, die ihre Nase während der Fahrt in Zeitschriften oder Bücher stecken, gar nicht verstehen könne.
Nichtsdestotrotz nimmt „aus dem Fenster schauen“ einen durchaus großen Raum ein. Vor allem in den ersten drei Tagen. Die Landschaft ist unerwartet abwechslungsreich. Zunächst mongolisch-karg, dann frisches Grün mit kleinen Dörfern aus Holzhäusern. Vom Zug aus sehen sie mit ihren rauchenden Schloten und ihren speziellen Formen, Farben und Verzierungen so malerisch und idyllisch aus, dass man am liebsten aussteigen und hier einziehen möchte. Geblendet ist man in diesem Moment und sieht nicht die sicherlich karge Lebensweise, die langen, eisigen, dunklen Winter, die Horden von Moskitos, die mangelnde kulturelle Anregung, die schlechte Anbindung an die nächste Stadt. Ein Höhepunkt folgt am dritten Tag. Plötzlich blitzt es tiefblau durchs kleine, lichte Birkenwäldchen: der Baikalsee. Die ersten Fotografieversuche aus dem Zug heraus sind einmal mehr überflüssig, fahren wir doch ein paar Stunden direkt am Ufer entlang und können immer wieder neue Blicke auf die Buchten, Strände, Dörfer und die gegenüberliegende Steilküste werfen. Die Berge, die wir kurz zuvor noch in der Ferne stehen sahen, sind hier sehr nah herangerückt. Die Schneefelder in den Höhen laden zum Firngleiterfahren ein. Wir hatten gar nicht im Kopf, dass es hier ein richtiges Gebirge hat. Die drei letzten Tage sind auch nicht uninteressant, vor allem, wenn wir die sibirischen Dörfer und ihre Menschen vorbeiflitzen sehen, wenn es über Flüsse geht oder wir die Autos auf den Straßen oder vor den Bahnschranken analysieren können. Landschaftlich allerdings überwiegt jetzt Wald, in erster Linie Birkenwald. Und je näher der ist, desto weniger sieht man logischerweise.
Deshalb stecken wir unsere Nase auch ab und an in Bücher oder Zeitungen, in moderner Form allerdings, das heißt in den Computer. Auch Musik und Hörbücher haben wir dabei, doch die Zeit vergeht so schnell, wir schaffen nicht einmal ein Hörbuch. Abends gibt es einen Kinofilm, er kommt ebenfalls aus dem modernen „Buch“ oder der „Zeitung“ oder dem „Radio“ – das ist eindeutig der Vorteil des Multimediareisens. Am dritten Abend läuft Maurice auf dem Weg zum Speisewagen an uns vorbei und wir laden ihn ein, das geplante Bier doch bei uns im Abteil zu trinken. Als kurz später das englisch-norwegische Pärchen kommt, sind wir schon fünft. Der Zug stoppt kurz später und wir steigen für eine halbe Stunde aus. Chris und seine Freundin schaffen den Rückweg von Waggon 2 zu uns in Waggon 5 danach nicht mehr, sie sind bei ihrem Wodka hängengeblieben. So sitzen wir gerade wieder mit Maurice im Abteil, als der „Nachbarrusse“ mit drei Dosen Bier in der Hand hereinstolpert und sich auf den Sitz fallen lässt. Er scheint seit der Abfahrt in Peking betrunken zu sein, zumindest haben wir ihn immer nur zum Rauchen und zurück in sein Abteil schwanken sehen. Im Pyjama versteht sich. Jetzt ist sein Zustand allerdings nicht so übel, er ist vielmehr in Feierlaune. „Als Vladislav“ stellt er sich vor und wir erfahren, dass er für die Regierung arbeitet und zwar im Metier „chinese-russian relationships“. Ja, da haben wir die Basis des russisch-chinesischen Dialogs ja schon enttarnt. Auf so eine Freundschaft muss man doch mit einem Zahnputzbecher Reisschnaps, einem Plastikbecher voll Wodka oder zumindest ein paar Dosen Bier anstoßen. Dann klappt’s auch mit der Verständigung. Aber nein, ohne Spaß. Vladislav kann perfekt Chinesisch, den Lesetest besteht er an unserer Speisekarte auch und er spricht ebenso hervorragend Englisch. So könnte es ein lustiger, interessanter Abend werden, doch kurze Zeit nach Vladi erscheint „Dima“, einer der Betreiber des russischen Speisewagens, oder ist es mehr ein Barwagen. Dima ist ein kahlgeschorener, dünner, doch muskelbepackter junger Mann im Shirt, das eben jene betonen soll, der auf den ersten Blick aufgrund seiner vielen Tätowierungen am Arm furchteinflößend wirkt. Gar nicht zu ihm zu passen scheint daher sein freundliches Lachen, dass das ganze Gesicht einnimmt und sogar die Augen zum Leuchten bringt. Mit Dima im Abteil tauscht der Abend sein Adjektiv „interessant“ in „abgefahren“ und fügt dem „lustig“ noch ein „schaurig“ dazu. Wir sitzen mit einem russischen Regierungsbeamten (der übrigens genauso alt ist wie wir) und einem – vielleicht etwas jüngeren – russischen Nazi da und trinken ein Dosenbier nach dem anderen. Das erste, was Dima macht, ist sein Muskelshirt zu lüften und uns stolz seine SS-Tätowierung verbunden mit einem Hitlergruß zu präsentieren. Alles natürlich mit breitestem Grinsen, was es schon „strange“ genug macht. Nur, dass er dann noch ständig mit Maurice – offensichtlich koreanischer Abstammung – Arm in Arm posiert, ist der Höhepunkt der Skurrilität. Was ist die Menschenspezies doch unergründlich. Dieser übertrieben gesagt „kleine, strahlende Junge“, der hier mit uns feiert – wie anders verhält er sich wohl in einer Gruppe, die auch dieses schändliche Erkennungszeichen trägt? Wie gefährlich kann er werden? Wie pervers ist es, dass ihm das Bier hier mit einem schmeckt, dem er vielleicht an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt in einer anderen Gruppe den Schädel eintreten würde? Was sind Gruppen – de facto auch Staaten, Völker, Stämme, Familien – mit denen sich der Mensch stets zu identifizieren versucht, wie können sie es immer wieder schaffen, dass das ganz natürliche Miteinander, die basale Menschlichkeit aus den Angeln gehoben wird? Wann kippt der Schalter? Und warum? Aus dem Gefängnis stammen Dimas weitere Tätowierungen: eines bedeutet wohl, dass er einen Menschen auf dem Gewissen hat, eines – eine auf den Rücken gebrannte Zielscheibe – dass er deshalb unter Beobachtung steht. Hier wäre es jetzt interessant, mehr über die Zustände in russischen Gefängnissen zu erfahren und über die Zustände, die ihn dahin brachten, doch da der Abend sein Prädikat „interessant“ abgegeben hat, bleibt das unser gesamtes Wissen über Dima. Unser Vertrauen in ihn steigt nicht gerade, wenn er auch – ganz ohne dieses Hintergrundwissen gesehen – ein sympathischer, fröhlicher Bursche ist. Wir sind daher froh, dass Maurice uns die nächsten Stunden mit seiner Gesellschaft beglückt, damit wir nicht allein mit den beiden sind. Dima muss nach einiger Zeit wohl noch ein wenig arbeiten und geht, doch Vladi fühlt sich wohl bei uns und wir führen lustige Gespräche und hören seine Lieblingsmusik () vom Handy. Vladislav würde übrigens lieber von seinem Arbeitsplatz in Harbin (China) nach Hause nach Krasnojarsk (Rus) fliegen, doch sein Arbeitskollege, mit dem er das Abteil teilt, fliegt nicht. Daher müssen sie Zug fahren – wahrscheinlich hat der ältere Kollege die Freiheit zu bestimmen, wie gereist wird. Er scheint auch die Freiheit zu haben darüber zu bestimmen, wann Vladislav endlich schlafen geht. Es kostet ihn zwar einige Anläufe, doch beim dritten wirkt er sehr sauer und sehr bestimmt. Er wolle schließlich schlafen und überhaupt, was uns denn einfalle, ob wir denn nicht schlafen wollten? Ja, da sitzen zufällig ein Typ bei uns im Abteil. Darüber hinaus auch der gesamte Vorrat an Dosenbier, den Vladi dem Restaurantwaggon aufgekauft hat. Wir werfen einen Gast ja nicht einfach hinaus. Das hat der Kollege wohl auch erkannt, der schließlich droht, Vladis Ehefrau anzurufen (Vladi hat am Nachmittag nur mal eben die Gunst der Stunde genutzt und sich mit der Schwester Dimas, die seine Muskelmasse auf Brusthöhe trägt, im Abteil neben uns vergnügt. Auf der Flucht vor weiteren diesbezüglichen Verpflichtungen ist er dann übrigens in unser Abteil geplumpst. Na, ob es die Ehefrau Nummer vier (Vladis Aussage zufolge – doch dabei bleibt unklar ob nacheinander oder gleichzeitig) überhaupt noch vom Hocker reißen würde? Letztlich schafft es Vladi doch aus unserem Abteil hinaus, vielleicht auch nach den Drohungen Dimas, der sich nun auf die Seite des Kollegen geschlagen hat und mit ein, zwei Boxschlägen gegen unsere Kopflehne seine Entschlossenheit zur Räumung demonstriert. „Lock your door!“ – das ist der Tipp von Maurice, als er seinen Rückweg zu Waggon Nummer 2 einschlägt. Der enge Zugflur und die vorgegebene Richtung werden ihm helfen, sein Ziel zu erreichen. Wir folgen seinem Rat.
Dieser Abend bleibt der einzige, den wir in Gesellschaft verbringen. Vladi ist am nächsten Morgen schon ausgestiegen (worden) und Dima allein sucht nicht unsere Nähe. Er könnte sich auch nicht verständigen. Wir sind nun die einzigen Fahrgäste in unserem Waggon für die restlichen Tage. Die anderen Westnasen tauchen abends auch nicht mehr auf – Chris packt es (nach der Wodkanacht mit seiner Frau) bei einem Halt am Bahnsteig und unserer Nachfrage, wie es ihm gehe, in die Worte des „am nächsten Tag Leidenden“: „no more drinking on the train“. Was sind wir froh, das Vladi Dosenbier und nicht Wodka angeschleppt hatte!
Essen ist sowieso die viel bessere Beschäftigung. Und hier sind wir ja immer gut! Also mit Essen gehen schon auch ein paar Stunden drauf.
Und so kommt es, dass wir nach sechs Tagen und sechs Nächten in Moskau einrollen und uns wundern, wo die letzte Woche hin ist.
Die Ticketübergabe für unseren Zug nach St. Petersburg und den nach Finnland verzögert sich etwas, doch eine halbe Stunde nach unserer Ankunft kommen die Botinnen von „Real Russia“ und händigen uns die neuen Fahrscheine aus. Sechs Stunden gilt es zu überbrücken. Wir gehen in eine Pizzeria, die zwischen den beiden Bahnhöfen „Jaroslavsky“ und „Leningradsky“ liegt. Durch das große Fenster können wir das Treiben auf dem Vorplatz gut beobachten. Nach einer Stunde fühle ich mich so weit hinuntergezogen, dass es besser ist, zu gehen. Hier sammelt sich alles, was Probleme hat, so scheint es. Bahnhöfe sind dafür ja bekanntlich prädestiniert. Die alte Wodkatruppe mit den zerfurchten, abgelebten Gesichtern freut sich an den Erzählungen ihres jungen Mitglieds. Ein Mann von höchstens 23 mit schlecht verheilter Platzwunde an der Augenbraue. Er kann kaum noch gerade stehen, doch er kippt das Wahnsinnsgetränk wie Wasser hinunter. Was ist nur schiefgelaufen, frage ich mich. Stolz zeigt er ein paar Fotos herum. Ein etwa vierjähriges Mädchen lacht darauf schüchtern in die Kamera. Was ist nur schiefgelaufen? Ein Mütterlein im roten Wollpulli steht kerzengerade da. Sie trägt einen Rucksack und Turnschuhe. In jeder Hand hält sie einen Schuh zum Verkauf bereit: weißer Ballerina oder brauner Stöckelschuh? Fast bin ich versucht, hinauszugehen, es ist ja nicht mit anzusehen. Doch plötzlich ist sie aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Mann wirft eine Dose in den Mülleimer vor dem Metroeingang. Halt, will ich rufen, soeben war der Dosensammler da! Doch es dauert nicht lange, und es freut sich ein nächster.
Die Wartehalle des Leningradsky ist voller Reisender. Alle halbe Stunde fährt ein Zug nach Sankt Petersburg, doch wir haben eine Buchung für ein Uhr nachts. Auch hier vertreibt uns das Menschenbeobachten die Wartezeit. Gegen Mitternacht kommen immer mehr sehr junge Mädchen und Jungs in Militäruniform. Ihre Unterhemden sind blau-weiß geringelt, wir tippen auf angehende Matrosen. Doch uns verwundert, wie jung sie sind. Die Mädchen erinnern uns im Verhalten und vom Aussehen her vollkommen an unsere Schüler. Player hören, affektiert dazu tanzen, kichern, riesige Ohrringe tragen, hysterisch aufschreien, … die volle Palette. Das seltsame an dieser Gruppe, die aussieht, als führe sie auf Klassenfahrt sind lediglich die Tarnuniformen und die erwachsenen Generäle oder was auch immer, die dabeistehen und sogar für den einen und anderen Scherz zu haben sind.
Schließlich ist es geschafft. Der Zug rollt ein. Wir beziehen unser gemütliches Abteil. Es ist diesmal von der alten Sorte und lässt uns in Erinnerung schwelgen. In exakt so einem Abteil sind wir im August von Moskau nach Almaty gefahren! Die Kissen sind liebevoll drapiert, die Handtücher hängen bereit, im Klo liegt ein roter Teppich aus. Lass uns nochmal losfahren!
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