18./19.10.2009 (m) – Xichang – Pingchuan: 93km, 1800Hm
Wie bringt man in China einen ganzen Tag rum, wenn man nicht radelt und vor Ort keine Sehenswürdigkeiten in greifbarer Nähe sind? Bei uns würde man sich ein gemütliches Café suchen, eine Zeitung kaufen und den Lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Aber in China? Cafés gibt es keine und in den Restaurants herrscht stets hektische Betriebsamkeit – man isst, zahlt und geht. Und so beschließen wir, unser Hotelzimmer noch bis zum Abend zu belegen, was gegen einen kleinen Obulus kein Problem ist. So können wir gemütlich lesen, Kaffee kochen und über das Internet mit unseren Lieben zu Hause kommunizieren. Auch mal wieder schön!
Und warum das alles? Wir nehmen heute den Nachtzug nach Xichang, der Emei um 23:57 Uhr verlässt. Als die Nacht langsam ihren Mantel über den Ort legt, wird es Zeit für uns auszuchecken. Mit beladenen Rädern gehen wir in eine nahe gelegenes Restaurant zum Abendessen, das aufgrund von einigen Busladungen chinesischer Touristen aus allen Nähten platzt, so dass wir sogar auf einen Tisch warten müssen. Macht aber nichts, wir haben ja Zeit. Gestärkt für die Nachtfahrt rollen wir die paar Kilometer zum Bahnhof und geben unsere Räder brav bei der Gepäckannahme auf. Dafür erhalten wir zwei wunderschöne Quittungen. Wir schultern unsere Packtaschen und werfen nochmals einen Blick über die Schulter auf die „Steppenwölfe“. Werden wir sie morgen früh wiedersehen?
Die Wartehalle ist spartanisch eingerichtet. Fahles Neonlicht beleuchtet die zahlreichen Plastikstuhlreihen nur schwach, die Gesichter der wartenden sehen noch müder aus, als sie ohnehin zu sein scheinen. Große Eisengitter versperren den direkten Weg zum Bahnsteig – der darf erst mit Eintreffen des entsprechenden Zuges betreten werden. Dies wird rechtzeitig von einem Bahnmitarbeiter per Megafon bekanntgegeben, woraufhin sich die Reisenden mit dem gültigen Ticket panikartig zu den Türen aufmachen und dort einzeln durch gewunken werden. Wir suchen uns ein Plätzchen in der noch freien Ecke und mutmaßen nach einiger Zeit und etlichen Duftfahnen aus der Toilettenrichtung, dass dies wohl der Grund für das großzügige Stuhlangebot hier am Rand ist. Wir sitzen, reden, warten, trinken, sitzen, warten, pinkeln, sitzen, warten…dann ist es soweit. Unser Zug ist dran! Ordentlich und gesittet geht alles zu, man zeigt uns den Platz am Bahnsteig, an dem unser Wagen halten wird und bald stehen wir im Gang der „Hardsleeper“-Klasse und suchen unsere Betten. Der Zug ist sauber und recht neuwertig. Der Boden ist mit einem Teppich ausgelegt, auf jeder Liege warten ein kuscheliges Kissen und eine weiche, große Decke auf Kundschaft. Wir verzurren unser Gepäck auf der Ablage über dem Gang und falten uns auf die Matratzen, die so „hard“ gar nicht sind. Bald schon wird das Licht gelöscht und eine für China schier unglaubliche Ruhe legt sich über den Waggon. Das Schaukeln des Zuges, der über die Schwellen der Gleise rollt, wiegt uns sanft in den Schlaf…
Die Nacht ist trotz oder gerade wegen des guten Schlafs recht kurz. Um 7:30 Uhr werden wir von der Schaffnerin geweckt und machen uns fertig zum Aussteigen. Wiederum geht alles sehr gemäßigt zu, alle sitzen brav auf den Klappstühlen im Gang und warten geduldig, bis der Zug sein Ziel erreicht. Rasch finden wir die Gepäckausgabe, die allerdings laut Anschlag erst um 9:00 Uhr öffnet. Es ist jetzt 8:15 Uhr. Das geht ja noch. Was aber, wenn man um 6:00 Uhr ankommt? Geduldig sein, heiß wohl die Devise. Was bleibt uns sonst auch übrig? Entgegen unserer Erwartung öffnet sich die Tür dann doch recht bald, wenngleich zunächst Autoteile und weitere große Pakete in den wildesten Verhüllungen auf überdimensionalen Leiterwägen zu kleinen Transportern gebracht und zur Weiterfahrt verladen werden. Irgendwann sind wir an der Reihe und erhalten gegen die Quittungen und ein Entgelt von 4,50 Yuan (45 Cent) unsere Räder. Na, das hat ja wirklich hervorragend und vor allem stressfrei geklappt. Als wir an der „Tourist Information“ nach dem Weg fragen wollen, versammeln sich wie meist zahlreiche Menschen um uns. Hier treffen wir mal wieder auf das geballte Unwissen. Jeder gibt seinen Senf dazu, keiner kennt aber den Ort, wo wir hin wollen, geschweige denn eine andere Straße als die Autobahn – so scheint es zumindest. Wir verlassen uns dann doch auf unseren Instinkt und fahren einfach los, um wenige hundert Meter später das richtige Straßenschild verbunden mit der richtigen Straße anzutreffen. Es gelingt uns wieder einmal nicht, einen großen Baozi-Dämpfer am Straßenrand so weiträumig zu umfahren, als das nicht einige der leckeren gefüllten Teigtaschen den Weg in unseren Mägen finden würden.
Einige kleine Anstiege und Abfahren führen auf eine längere Gerade, die uns rasch an die Berge heranführt. Ein Schild deuten wir nicht ganz richtig und bemerken dies leider erst nach zwei Kilometern und 100Hm Anstieg. Der Fehler ist aber schnell korrigiert und durch einen kleinen, wuseligen Ort gelangen wir zur Bergstraße Richtung Yanyuan. Knapp 900 Hm feinste Kehren, gesäumt von steilen, terrassierten Hängen führen uns zum Pass. Endlich sehen wir auch mal wieder größere Teile des blauen Himmels und ein nicht zu verachtender Rückenwind schiebt großzügig mit nach oben: so macht Radfahren Spaß! Der Anstieg ist diesmal wirklich steil und was so auf einen zukommt, kann man unschwer an den vielen entgegen kommenden LKWs erkennen, deren wassergekühlte Bremsen dampfen wie die Nüstern eines Pferdes an einem kalten Herbstmorgen auf der Weide.
Die Passhöhe gibt dann den Blick auf eine steil abfallende Straße, die sich am Hang entlang windet, frei. Tief unten der Yalong Jiang, der schon eine stattliche Breite aufweist und sich weiter stromabwärts in den Jangtse ergießen wird. Die Landschaft ist wie schon in den Tagen zuvor tropisch. Wo keine Bäume oder andere Grünpflanzen wachsen, liegt die rote Erde brach, die von den Bewohnern so gut es geht und an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu landschaftlichen Zwecken genutzt wird. Über 1000Hm brausen wir hinunter zum Fluss, den wir an einer großen Brücke überqueren. Von da an wird die Straße nun über 2000Hm wieder ansteigen! Eigentlich wollten wir im Ort vorher nächtigen, doch das sehr schöne, neue Hotel scheint aus irgendwelchen Gründen kein Zimmer für uns zu haben. Etwas enttäuscht müssen wir so weiter und kurz vor Sonnenuntergang nochmals 20km und 500 Hm an das Tagwerk dranhängen. Die Landschaft ist aber bezaubernd, der Wind uns immer noch wohl gesonnen und ein „Not-Snickers“ weckt neue Kräfte. So erreichen wir Pingchuazhen noch mit den letzten Sonnenstrahlen und auch das Hotel hier ist schön. Eine heiße Dusche gibt es auch – wunderbar. Gegen 19:30 Uhr schlendern wir durch den sehr überschaubaren Ort auf der Suche nach Essbarem. Nach und nach stellen wir fest, dass alle schon am Abspülen sind, viele Restaurants haben schon „aufgestuhlt“. Und so müssen wir schon eine Familie vom eigenen Abendessen abhalten (was uns sehr unangenehm ist), um in den Genuss einer kräftigen Nudelsuppe, Ei mit Tomate und – man höre und staune – Kartoffel-Rösti Sichuan-Style, zu kommen.