Unsere Recherche nach sollen die nächsten 100 km entlang der Küste weniger attraktiv zum Radeln sein, es würde weiter ein Schlängeln zwischen alten, abgewrackten Nebenstraßen und der schnellstraßenähnlichen SS 115/E 931 sein und auch die Berichte der Radreisenden, die in die andere Richtung fahren als wir, also Sizilien im Uhrzeigersinn umrunden, überzeugen uns nicht. Beziehungsweise sie überzeugen uns, von Agrigento mal hinein ins Landesinnere zu „stechen“ und später wieder an die Küste zu kommen. Es kostet noch einiges an Zeit, geöffnete Agriturismo-Anbieter zu finden, doch letztlich finden wir drei in einigermaßen sinnvollen Abständen und starten durch bis zum Agricampeggio Koala nördlich von Caltanissetta.
Es beginnt gleich wieder spannend, die von ausgesuchte SP 3 nach Favara schlängelt sich die Hügel hoch – zum Teil ziemlich steil und ist auf die gesamte Länge für Fahrräder gesperrt. What? Nicht, dass wir uns hier noch an irgendein Schild halten würden, das tut man hier einfach nicht und man soll sich ja den Landesgepflogenheiten anpassen! Aber was bitte soll das? Und diesmal ist es nicht nur ein Schild am Anfang der Straße, sondern wir werden in kurzen Abständen daran erinnert, dass wir hier eigentlich nichts verloren haben.
Die Straße ist für das, was wir bisher auf der Insel schon erlebt haben, in einem erstaunlich guten Zustand, wohl aber doch zu schlecht, als dass die Provinz Agrigento verantworten könnte, darauf Radfahrer fahren zu lassen. An einer Einfahrt schiebt ein Anwohner gerade die dicke Nase seines SUVs auf die Straße und wir fragen ihn, warum die Straße denn für Radfahrer gesperrt sei. Er meint, der Grund wäre wahrscheinlich, dass sie in einem schlechten Zustand sei aber wir sollten weiterfahren, das interessiere ja keinen und die Polizei wäre hier auch nicht. „Also fahrt einfach!“ Gut, sowas hatten wir uns schon fast gedacht. Durch diese Schilder wird einfach die Verantwortung abgegeben. Man fährt auf eigene Gefahr – selber schuld.
Ab der Stadt Favara dürfen endlich auch wir uns offiziell auf der Straße bewegen und wir nehmen die SS 122 über Castrofilippo nach Canicatti. Heute ist ein nationaler Feiertag – die (Selbst-)Befreiung von Nazideutschland – und das spielt uns in die Karten, weil dadurch sehr wenig Verkehr ist. In Italien ist es durchaus sehr empfehlenswert, sonn- und feiertags zu radeln. Das machen die Einheimischen mit ihren Rennrädern übrigens auch. Die Landschaft um uns ist mittlerweile hügelig und grün und es liegt erstaunlich wenig Müll herum – nur mal ein Schweineeimer, eigentlich passend.
Und plötzlich taucht der Ätna auf – welche Freude! Seht ihr ihn?
Interessant auch dieser Hinweis – anschnallen bitte! Ich erinnere mich kaum noch an diese Kampagne in Deutschland – Anfang der 80er Jahre? Anschnallpflicht gibt es zumindest bei uns seit dem Jahr meiner Geburt. Aber hier wird man schon mal von einem Papa mit Kleinkind auf dem Schoß und Handy in der Hand platzsparend überholt. Wer nimmt’s schon so genau?!
Die Strecke wird immer schöner – nach dem Ort Delia windet sich die kleine Straße SP 1 nun um Hügel und über Hügel hinauf bis Caltanissetta. Wilder Fenchel bis zum Abwinken flankiert uns und die anderen Blumen verschiedenster Couleur strahlen so sehr wie wir, weil sie nicht mit Müll beworfen wurden und wir keinen Müll sehen müssen. Wussten wir doch, dass sich ein Ausflug ins Hinterland lohnt! Eigentlich weiß man es doch eh!
Außerdem hat es auf diesem Schild (re) endlich mal jemand beim richtigen Namen genannt: Sportler sind hier unterwegs, genau. Nicht nur „Fahrradtouristen“ wie sonst überall steht. Vielleicht verschafft der Begriff Sportler den Autofahrern mehr Respekt? Aber hier sind eh keine.
In der Stadt Caltanissetta sehen wir heute fast ausschließlich Geflüchtete verschiedenster Länder, die den Fußmarsch zum Einkaufen in einem kleinen afrikanischen Alimentari auf sich nehmen oder auf einen Videocall oder einen Ratsch herumstehen. Die Italiener scheinen alle die Nation zu feiern – oder einfach einen Grillnachmittag zu verbringen. So, wie auf dem Agricamping Koala, auf den wir einrollen, nachdem wir uns über den höchsten Punkt der Stadt hinausgekämpft haben.
Die Betreiber vermieten hier Terrassen mit einem großen Tisch und natürlich einem Grillplatz und einer Feuerstelle. Für eine große Familie mit viel Picknickzeug im Kofferraum. Genau das, was heute stark gefragt ist.
Wir bekommen auch so eine Terrasse und als um 18 Uhr der Agricamping-Tagespass ausläuft, sind wir allein mit den Besitzern auf dem Gelände. Wir genießen den Blick in die Hügel nach Norden und die Autobahn unten im Tal – wenig befahren, denn heute wird ja gefeiert.
Der nächste Tag hält wieder eine Wundertüte an Emotionen bereit. Wir rollen etwas durch das jetzt belebte Caltanissetta. Wenn man die Landkarte betrachtet, so stellt Caltanissetta den Nabel Siziliens dar – mittendrin. Am Platz um die Kathedrale ist gewohnt geschäftiges Treiben – vor allem „alte Männle“ stehen wieder herum und haben sich unglaublich viel unglaublich laut zu erzählen.
Über eine Nebenstraße rollen wir hinunter nach Süden aus der Stadt, nachdem Molle noch den Tiefpunkt des Tages erleidet. In diesem Supermarkt (heißt „Familia“) bekommt er den Discount für über 60-jährige zugesprochen. Ach, das gilt heut sicher für alle – sollte man nicht persönlich nehmen!
Nach einer kurzen Müll-Einfahrt in die Straße (Müll liegt ja meist in der Nähe von Ortschaften) genießen wir eine tolle Abfahrt durch ebensolche Landschaft, die von sattem Grün und anderen Farben nur so strotzt.
Kurz vor der alten Brücke unten im Tal leider wieder ein Müllplatz samt totem, stinkendem Hund und nach der Unterquerung der Hauptstraße für uns ein gewohntes Schild: Straße gesperrt. Das kann echt nicht sein! Aber gut, wie immer beachten wir es nicht, was hätten wir auch für eine Wahl? Acht Meter über uns verläuft eine schnellstraßenartige Trasse auf Stelzenbeinen, auf der wir sowieso nicht fahren würden, da wir sie lieber den Sattelschleppern überlassen. Also rein ins „Verbotene“.
Das ganze ist dann immer etwas unentspannt, weil sich Fragen auftun: Warum die Sperrung, fehlt eine Brücke oder ein Stück Straße, irgendwelche andere Gefahren? Aber mittlerweile wissen wir ja, das es meist nur darum geht, dass die Straße so „rotto“ ist, dass man niemanden mehr darauf offiziell fahren lassen kann. Mit dem Rad meist kein Problem, uns reicht ja auch ein kleines Stück Weg, gerne auch ohne Teer.
Auf so verlassenen Straßen kann man nicht nur Müll abladen, sondern sich auch sonst austoben:
Pietraperzia erreichen wir dann auch ohne Schwierigkeiten, der Ort ist toll an den Hang geschmiegt und vom verfallenen Castello hinunter durch die engen Gassen holpernd ist man mitten im ländlichen Sizilien.
Hier ist sogar auf der Hauptstraße SS 191 wenig los, so dass wir ihr folgen, bis wir hinüberqueren können auf die SP 78 nach Norden. Unser auserwählter Agricamping Gerace liegt malerisch in den Hügeln, unter Olivenbäumen stellt man sein Zelt oder seinen deutschen Riesencamper ab, ein kleiner Pool dient der Erfrischung und Christof, der Einheimische, der lange in Deutschland gearbeitet hat, empfängt in fließendem Deutsch. Er stellt darüber hinaus Bioprodukte her und verkauft sie europaweit. Auf das Menü für 40 Euro pro Person am Abend verzichten wir, es soll zwar wirklich sehr gut sein, aber wir denken, hervorragende lokale Speisen an anderen Orten schon günstiger und auch authentisch bekommen zu haben. Außerdem haben wir alles dabei. Für die Zielgruppe hier – betuchte Wohnmobilisten – ist dies aber durchaus ein sinnvolles Konzept. Der Ort wunderschön und doch irgendwie zu „glatt“, als dass er in unser bisheriges Sizilienbild passen würde.
Wir fahren weiter am nächsten Tag – Christof hatten wir noch gefragt, was das mit den Straßensperrungen denn nun so soll und er meinte, was wir ja vermutet hatten, dass es sich dabei um Verantwortungsabgabe handelt – wenn man fährt, dann ist man selber schuld.
Mit dieser Aussage gestärkt biegen wir etwas südlich des Hofs beherzt ab von der SP 78, um uns auf der gesperrten Nebenstraße durch die tollen Hügel nach Piazza Armerina zu schlagen.
Doch weit kommen wir nicht. Ein Autofahrer hält an und warnt uns davor, die Straße zu nehmen: „Cani, Cani“ – sie sei voller Hunde. Hm. Etwas verunsichert stehen wir herum – wer hat von uns schon Lust auf Hunde – gibt es ja so schon immer genug Stress damit. Wir hoffen, dass noch ein Auto kommt und tatsächlich winke ich ein paar Minuten später einen SUV herunter. Ob es auf der Straße da Hund gibt? „Ja, schon“, meint er und steigt aus, „große Hunde“ und macht eine Handgeste auf Brusthöhe. Wir sollten besser umdrehen und über die größeren Straßen fahren. Etwas gefrustet fahren wir zurück. Dabei entdecken wir an der Kreuzung einen HInweis darauf, warum die SP so neu geteert ist. Der Giro di Sicilia lief hier letzte Woche durch. Wir fahren diese gute Straße wieder hinunter – was wir gestern Abend hochgestrampelt sind – nach Barrafranca und dann ostwärts nach Piazza Armerina. Die Laune hebt sich schnell. Es hat hier einfach weniger Verkehr als an der Küste und so kommen wir auch noch an der Villa Romana vorbei. Ein Touristen-Highlight Siziliens, das wir bis vor 15 Stunden (Christof hatte es erwähnt) noch nicht kannten. Als Lehrkräfte kommen wir „gratuito“ rein (eine gute Sache, fnden wir. Ich habe zwar keinen Lehrerausweis, aber mein Ausweis + das Foto von mir auf der Schulhomepage unter der Überschrift „professors“ werden auch akzeptiert). Die Villa Romana ist die archäologische Fundstätte einer privaten römischen Villa und besticht vor allem durch ihre Mosaikfußböden.
„Die spinnen, die Römer“ – Asterix hatte doch Recht. Man hatte damals kein kleines „Saunahäusle“, nein, man hatte eigene Thermen mit „Heizungsanlage“. Und überhaupt, wie kann man in einer ganzen, riesigen Villa jeden Raum mit Bildern von Mini-Steinen gestalten?!
Und vor allem: Welche arme Sau bzw. Säue mussten das machen? Aber schon gigantisch, die konnten besser Steine legen als ich (Katrin) zeichnen!
Piazza Armerina entpuppt sich als sehr malerischer Anblick.
Wir müssen extrem steil in der Hitze die Höhe in den Ort hinauf machen und Reisebusse von und zur Villa Romana passieren uns. Ein Millisekunden-Gedanke durchzuckt mich: Ach, säße ich doch jetzt auch da drin! Doch da sehe ich sie, wie sie innen stehend und sitzend ihre Nasen auf der richtigen Fensterseite plattdrücken und verzweifelt versuchen, mit senkrecht gehaltenen Handys Fotos vom Ort zu erhaschen. Und ich denke: Nein, ich bin so froh, dass ich mein Rad hier gemütlich an die Seite stellen kann und in aller Ruhe schauen. Und fotografieren. Und verschnaufen! Und sie tun mir etwas leid. Und ich ihnen wahrscheinlich auch.
Etwas hinter der Stadt trauen wir uns wieder auf eine Nebenstraße, weil sie durch einen relativ großen Ort (Mirabella Imbaccari) auf halber Strecke führt und wir denken, dass sie nicht verrottet sein kann. Richtig gedacht. Tolle Strecke und übrigens in weiten Strecken neu geteert – muss an der Tour Sicilia liegen, die hier im April lief. So viel perfekte Straßenkilometer hatten wir seit Rom nicht! Gut für uns, wir genießen eine richtig „normale“ Fahrt und den Ätna-Blick!
Mit so viel positiver Energie beladen fällt es uns leicht, noch eine gesperrte Straße für heute hinauf zur Hauptstraße zu nehmen. „Klar könnt ihr durchfahren“, meint einer der Arbeiter, die gerade Feierabend machen. Und nun stimmt es wieder.
Unser Ziel für heute Nacht ist der Agricamping „Parco Schifaldi“ – ein richtig cooler, naturnaher Platz im Schatten des Monte della Ganzaria. Sieht irgendwie aus, als wäre hier eine Kommune oder so am Werk. Toller Fleck und zu unserer Vogelstimmen-Sammlung (die Zwergohreule begleitet uns seit geraumer Zeit jeden Abend und nachts) kommt noch der Triel dazu. Mit einer italienischen Familie im Wohnmobil sind wir die einzigen Gäste.
Der nächste Tag bringt uns über Caltagirone wieder Richtung Küste. Caltagirone ist „die Keramikstadt“ und auch UNESCO-Welterbe.
Wir fahren vorbei an einer staatlichen Fachschule für Keramik und bewundern, wie alle Touristen, die Freitreppe deren 142 Stufen seit 1954 mit handgemalter Keramik verkleidet sind.
Die Fahrt bis hinunter ans Meer vor Marina die Acate läuft elegant ohne viele Steigungen, daher kaufe ich gleich mal noch 500g Erdbeeren ein und gebe sie Molle zum Schleppen.
Das Sträßchen führt durch das „Riserva Naturale orientata Sughereta die Niscemi“. Also, das obligatorische tägliche Müll-Foto bleibt hier niemandem erspart, aber alles in allem vernachlässigbar und somit sehr schön.
An der Küste angekommen bereuen wir bereits nach wenigen Kilometern, dass wir das Hinterland schon wieder verlassen haben. Die „kleine“ Straße entlang der Küste ist mega befahren, vor allem wir hier gerast, weil sie so gerade ist. Die noch „kleinere“ Linie ganz an der Küste führt durch das abgehalfterte Marina die Acate, das entweder noch schläft oder aber dem Verfall preisgegeben wurde, durch ewige Tomaten-Gewächshaus-Plantagen und dementsprechend Hunden, die herausrennen, bellen, uns verfolgen oder aber Müll, der überall liegen darf. Welcome back!
Mit Scoglitti passieren wir wieder einen touristischen Hafenort – dementsprechend herausgeputzt und „shiny“. Gerade recht für Kaffee und Eis. Von der fehlenden Brücke weiter südlich wussten wir bereits, wir schauen uns die Stelle an und können sie mit einer kurzen Schuhe-aus-Schieben-Strandzungenpassage überwinden.
So werden wir belohnt mit einem unbefahrenen Abschnitt vorbei am archäologischen Park Kamarina und müssen nur noch kurz auf die Hauptstraße (stressig genug!) bevor wir durch den Naturpark Randello nach Punta Braccetto rollen dürfen, wo wir auf dem Campingplatz Scarabeo wieder auf den Schweizer Radler Ruben treffen, den wir ein paar Stunden vorher kurz an der Strecke gesprochen hatten.
Ich schaue noch zum Strand und sehe, wie auf dem Meer hunderte kleiner Schiffchen in der Sonne glitzern. Ich habe diese Geschöpfe noch nie im Leben gesehen!
Es sind Segelquallen. Wie cool sie aussehen! Sie haben nur ein Problem: Sie sind fremdgesteuert. Wohin der Wind auch weht, dahin die Reise geht. So hat diese große Gruppe leider gerade mal Pech gehabt, denn es ging zum Strand. Keine optimale Umgebung für Segler. Sie sind übrigens völlig harmlos, aber ich entschließe mich doch nicht für ein gemeinsames Bad.
Einem gemütlichen Abend folgt eine etwas nervige Nacht. Erstens schnarcht der Niederländer von schräg gegenüber nicht nur sein eigenes Zelt zusammen und zweitens hat wieder irgendein Vollidiot zu später Stunde ein Feuer (Mottfeuer – Müllfeuer oder beides, weiß man hier leider nie so genau), so dass man die halbe Nacht im eigenen Zelt eingeräuchert wird. Der Wind, der tagsüber oft mal nervt, pennt jetzt natürlich auch, und so überlege ich fast, mit meiner Maske zu schlafen, aber das geht irgendwie auch nicht gut. Gegen Morgen wird es besser. Es gibt schon Trottel! Aber, wo nicht. Das ist jetzt nicht unbedingt sizilianisch ;) Vielleicht hätten wir doch das Blumenbe(e)tt nehmen sollen?
Aber Spaß beiseite – hatten wir schon die Blumen erwähnt? Es blumt hier auf der Insel gerade ganz wunderbar: