Hilfe in Orange

10.10.2009 (m) – Wenchuan – Dujiangyan (Teile mit Pick-up): 74km, 60Hm

Die Zahl der roten Blutkörperchen in unseren Körpern ist in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen. Jetzt, da wir wieder in tieferen Lagen fahren, werden unsere Muskeln optimal mit Sauerstoff versorgt. Kräftig treten wir in den höchsten Gängen gegen den Wind an und spüren kaum Ermüdung…7:14 Uhr, der Wecker klingelt. Schade auch. Aus einem Auge heraus blicke ich Richtung Fenster, das warme und kuschelige Hotelbett im Rücken. Schnell aber haben wir die Gewissheit, dass heute erneut in voller Montur gestartet werden darf. Wir hoffen aber auf eine ruhige Etappe, da es ja nur die Hauptstraße von Wenchuan hinaus Richtung Chengdu entlanggeht. Die soll sich in einem guten Zustand befinden und zudem geht es ja hauptsächlich bergab in das Rote Becken, das bei Chengdu beginnt. Wir bleiben also noch ein wenig liegen, machen dann einen Kaffee und blicken ein wenig aus dem Fenster auf die Kreuzung vor dem Hotel. Alles geht seinen geregelten Gang, das schwere Erdbeben ist erst gut 18 Monate her. Aber was bleibt den Menschen anderes übrig, als weiterzumachen, Neues aufzubauen?

Wir rollen aus der Stadt, fassen noch ein paar Baozi und dann befinden wir uns schon auf besagter Straße. Schnell wird klar, worauf wir uns da eingelassen haben. Die Fakten: 91km bis Dujiangyan, zahlreiche Busse und LKWs, Gegenwind und Tunnel (gerne auch unbeleuchtet, eng, stickig und lang (bis 2,5km)). Wir fahren so dahin, der Stresspegel steigt minütlich, der Blick schwankt zwischen vorne und Rückspiegel, ständig weichen wir auf den sandingen Seitenstreifen aus, bremsen herunter, um die dicken, überladenen Schwerlaster vorbeizulassen. Die ersten Tunnel bringen uns an den Rand der Verzweiflung. Sie sind im Inneren wirklich stockdunkel. Wir haben zwar eine gute Leuchte, es ist aber ein übles Gefühl, in einer solch stickigen Röhre, dem Verkehr voll ausgeliefert zu sein, gänzlich ohne Ausweichmöglichkeit. Mehr schlecht als recht durchqueren wir die Tunnels. Nach einer kurzen Pause, in der wir die Erdbebenschäden des großen Bebens von 2008 begutachtet haben, dessen Epizentrum wir eigentlich viel weiter nordöstlich gewähnt hatten, reift in uns der Gedanke, dass das Radeln dieser Strecke vielleicht doch nicht zu den erhabensten Ideen der letzten Zeit gezählt werden kann. An einer kleinen Häuserzeile erblicken wir im Vorbeifahren einen orangefarbenen Pickup. Wahrscheinlich flitzt durch unsere Köpfe zeitgleich der gleiche Gedanke. Und vor dem nächsten Tunnel ist es soweit. Aufgrund einer Baustelle wird der Verkehr nur einseitig durchgelassen und auf unsere Seite bildet sich eine Schlange. Wir stoppen neben dem Pickup, kurzes Gespräch, eine Kopfbewegung nach hinten, ein Nicken und wir verladen die Taschen im Auto und die Räder auf der Ladefläche. Die beiden Insassen des Autos sind Elektriker, die auf der Strecke einige Aufträge abzuwickeln haben – sie nehmen uns trotzdem mit, wir warten während der kurzen Einsätze im Auto. Der Fahrer erzählt schon immer vom Erdbeben uns so langsam dämmert uns, wo wir sind. Die Schlucht ist sau eng, die alte Straße fast auf der kompletten Länge mit Erdrutschen und Steinschlägen zugeschüttet. Und vor dem nächsten langen Tunnel der auf die Autobahn führt, fahren wir rechts ab über eine Schlammpiste und kommen in einem, ja eigentlich keinem, Ort, zum Stehen. Vor uns die eingestürzte „Middle School“. Rundherum alles platt. Wir sollen aussteigen und ein Foto machen. Es ist erschreckend, so etwas zu sehen und sich dabei vorzustellen, wie schrecklich die Ereignisse hier gewesen sein müssen. Eine große Steinuhr und eine Gedenktafel sind vor der Schule angebracht, dessen Ruine wohl als Denkmal stehenbleiben wird. Vor und um die Stelle herum lauter Hütten, Stände, Planen, Baustellen. Es geht weiter hier, es wird wieder gebaut. Wir setzen uns nach Aufforderung an einen der Stände zum Essen. Die beiden Männer bestellen einige Gerichte und lassen uns leider nicht mal bezahlen. „Ready“, fragt der jüngere der beiden, schon hüpfen wir wieder ins Auto. Ab hier führt die Route auf der alten „213“, wie sie vor dem Beben war. Einige Stellen wurden erneuert, so dass man sich auf einer Erdbeben-Tour befindet. Eingestürzte Brücken, weggebrochene Straßen…ein Wahnsinn. Überall entlang des Weges stehen braune Schilder, die hier in China auf Touristenattraktionen hinweisen: „broken bridge“, „fallen stone“, „earthquake site“, „epicenter site“, usw…die andere Seite der Medaille. Was das soll? Wir wissen es nicht so recht.

Die Strecke führt weiter über einen überraschend hohen Pass (gut 400Hm), dann entlang der Zipingpu-Talsperre des aufgestauten Min-Flusses wieder in die andere Richtung. Während der Autofahrt haben wir sechs Tunnel durchfahren und diesen Pass überwunden und dabei gut 60km zurückgelegt. Da hätten wir saublöd aus der Wäsche geschaut. Neben dem Verkehrsstress wäre es eine sehr,sehr lange Etappe geworden, die wir wohl kaum gestemmt hätten. Zumal wir von der Stelle, an der wir aus dem Auto gelassen werden, noch gut 25km zu radeln haben. Das wären gesamt sicher 120km gewesen. Die 91km bezogen sich wohl auf die direkte Route über die Autobahn, die für uns Radler ja nicht in Betracht gekommen wäre, zumal der Anfang ein 3,8km langer Tunnel war. Wir strampeln also noch ein wenig am Stausee vorbei, die Strecke windet sich an den Hängen entlang, irgendwann lassen wir die Staumauer hinter uns, das Tal öffnet sich ein wenig und wir radeln auf einer breiten Zufahrtsstraße in die Stadt hinein. An der ersten großen Kreuzung finden wir ein sehr schönes Hotel, wir säubern die Taschen und Räder vom Schlamm und machen es uns dann auf den breiten und gemütlichen Betten bequem. Wir sind rundum zufrieden und erleichtert, dass wir heute so nette Menschen getroffen haben, die uns eine vermutlich höllisch anstrengende Etappe abgenommen haben. Abends füllen wir unsere Bäuche in einem offenen Restaurant am Straßenrand – wie meistens sehr lecker.

10Okt2009

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