26.03.2010 (k) Zugfahrt Xiamen-Shanghai
Schön so ein Nachtzug, in dem man richtig ausschlafen kann, weil er erst abends ankommt. Alle Liegen über, unter und neben uns sind ebenfalls bis mindestens halb zehn belegt, bevor das allgemeine Rausschälen beginnt. Unser Platz am Rand des Waggons ist nicht so optimal, da direkt nebenan die Klos und Gemeinschaftswaschbecken sind, und wir das große Gerotze der eher älteren Mitmenschen dadurch hautnah mitbekommen. Das tolle an den russischen und chinesischen Zügen ist die ständige Verfügbarkeit von kochend heißem Wasser. So gibt es zum Frühstück erstmal einen Nescafé und zum Mittagessen zwei Fertigsuppen. Nicht allzu viele Leute fahren die ganze Strecke bis Shanghai und so wird es gegen Nachmittag zunehmend ruhiger und gemütlicher, auch in unserem „Abteil“. Ein Student aus Xiamen spricht uns schüchtern an. Es sei das erste Mal, dass er sein Englisch nutze, um mit Ausländern zu sprechen, er sei daher sehr nervös. Sein Englisch ist allerdings fast besser als unseres und so lässt er sich auch gern von mir beruhigen, als ich ihm erkläre, dass es keinen Sinn macht, eine Sprache zu lernen, wenn man sie nicht anwendet. Ich versichere ihm, dass auch mein Englisch nicht perfekt ist, ich mich aber freue, mit ihm trotzdem sprechen zu können. Haobo fährt nach Shanghai, um an einem Test teilzunehmen. Wenn er besteht, hat er die Chance, ein „officer“ zu werden, der beim Staat angestellt ist und im Finanzbereich der Städte und Kommunen tätig ist. Wenn nicht, muss er sich als Finanzfachmann in einem Betrieb einen Job suchen, was zur Zeit nicht einfach ist. In den nächsten Stunden wird er sich selbst vom Lernen abhalten, weil er mit uns quatscht. Er ist ebenso erfreut wie ich, zu erfahren, welche Ansichten beim Gegenüber vorherrschen: von Religion und der Frage nach dem Sinn des Lebens bis zu Hitler und Mao, von den Arbeitsbedingungen der Eltern und sozialen Missständen bis zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen, von Michael Jordan bis zum Klimawandel reichen die Gespräche. Kaum ein Thema, das wir auslassen. Seine Ansichten und sein Wissen finde ich faszinierend. Es scheint so, dass Vorstellungen von Demokratie und Umweltschutz, von Menschenrechten und freiheitlichem Denken in seiner Welt ganz klare Konturen angenommen haben. Er spricht davon, etwas ändern zu wollen und doch scheint er ein Parteimitglied zu sein, einen Job beim Staat anzustreben und sich in die traditionellen familiären Zwänge einzufügen. Er wird nicht der einzige sein, der sich diese Gedanken macht, mich beschleicht das Gefühl, in China wird sich bald etwas ändern. Von innen heraus. Durch Menschen wie ihn. Allerdings, und das kann gut oder schlecht sein, sind seine Ansichten realistisch, aber nicht revolutionär. Er meint auch, dass die Chinesen ein Volk seien, das unendlich viel ertragen könne und erst dann, wenn es ums Überleben geht, gegen die Machthabenden aufbegehren würde. Nicht einmal dann, wenn man die Geschichte betrachtet, finde ich. Sein größter Wunsch ist es, wie wir herumreisen zu können. Dazu braucht man Geld. Nicht wenig Geld. Und das scheint auch ein Hauptziel von Haobo zu sein: so einen guten Job zu haben, dass ihm ein freieres, unabhängiges Leben möglich ist. Da bleibt die Frage, ob jemand, der es in diesem und durch dieses System dorthin schafft, dann noch große Anstrengungen unternimmt, etwas am System zu ändern? Das bleibt abzuwarten, aber allein das Gespräch mit diesem 26-jährigen lässt mich wieder hoffen für China, für seine nächste Generation – sie ist in Bewegung.
Mit leichter Verspätung rollen wir in den Südbahnhof Shanghais ein. Wir teilen uns ein Taxi mit einem anderen Studenten, den wir auch kennengelernt haben. Das von uns vorgebuchte Hotel ist nicht mal einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und so wird der Taxifahrer mehr verdienen, weil er noch weiter fahren kann. Die Reservierung hat reibungslos geklappt und kurz nach Mitternacht sinken wir müde in unser weiches Bett.