König:innen und der Straßen und ihre Abgründe

„Königin der Straßen“ – diesen Beinamen hatte die Via Appia wohl bereits schon in der Antike, war sie doch eine der wichtigsten Handelsstraßen, nicht nur für den Handel mit Sklaven aus dem Orient. Als Radfahrer würde man sie wegen ihres holprigen Belages allerdings nicht als Königin der Straßen bezeichnen, durchaus aber noch als Prinzessin, bringt sie einen doch atemberaubend schön und vor allem sicher aus der Metropole. Ab dem Museo delle Mura folgen wir ihrem Weg nach Süden. Zunächst noch stark befahren, ist sie kurz nach den Katakomben San Sebastiano für den motorisierten Verkehr gesperrt und lässt sich so natürlich viel besser als „längstes Museum der Welt“ bewundern.

Unzählige historische Bauten – vor allem Grabmäler – säumen die Strecke. An manchen Stellen ist das antike Pflaster noch vorhanden, die Einkerbungen der großen Wagenräder zu erkennen. Mal liegt hier eine halbe Säule, mal dort ein kleiner, über 2000 Jahre alter Stein mit Inschrift oder Verzierung. Aus einiger Entfernung bewundern wir die Überreste der Villa der Quintilier oder Arkaden von Aquädukten.

Es ist Sonntag Vormittag und die alte Dame wird gut frequentiert von Spaziergängern, Radfahrern aller Art, Joggern oder Chillern. Ab Santa Maria delle Mole ist es dann allerdings leider mit der Geruhsamkeit zunehmend vorbei. Nur noch auf wenigen Abschnitten gelingt es uns, kleine, wenig befahrene Straßen zu „ergattern“, meist tummeln sich auch auf „weißen“ (laut Karte die „kleinsten“) ziemlich viele Blechkisten. Der Straßenzustand ist schlecht, Schlaglöcher und Hügel wechseln sich ab. Das Fahren erfordert bereits ordentlich Konzentration und wird schnell nervig – und das, obwohl Sonntag ist und unsere größten „Feinde“, die LKWs noch gar nicht auf der Piste sind. Wir versuchen es südlich von Ardea mit der Straße direkt am Meer – etwas besser als landeinwärts, da es durch viel Besiedelung geht und die Autos hier nicht so brettern können. Ja, Italien, wir hatten es nicht vergessen, du bist ein Autoland und hast eigentlich leider nie breit genuge Straßen dafür bekommen. Das ist ein echter Grund, dich nicht zu mögen! Ein paar unerschrockene Rennradfahrer sieht man lustigerweise immer – freiwillig würde ich hier ja nicht fahren ;-))

Wir erreichen den auserkorenen Agriturismo „Valle Maggio“ kurz vor Lavinia unbeschadet und dürfen unser Zelt auf dem Gelände aufschlagen. Gut, denn die Bungalows wirken wenig einladend und aus vergangener Zeit. Die Zeit bis es dunkel wird beobachten wir das Treiben, das hier auf dem Gelände um das Restaurant herrscht. Immer wieder wird das Fleischlager geentert und große Platten Salsiccia herausgefischt, Fleischstücke abgeschnitten oder im Gemüsegarten Rucola, Fenchel und Kräuter geerntet. Ein Schwein steht im Laufstall – vermutlich das Bistecca von übermorgen. Die große Küche hat sich mit ihren Gerätschaften und Arbeitsbereichen über die Jahre schon in den Gartenbereich ausgedehnt.

Mama mit weißer Haube und Angestellte im Küchendress wuseln herum. Alles scheint sich hier vor allem ums Restaurant zu drehen, wir sind unbeachtete Zuschauer und gespannt, wer da wohl heute Abend alles kommt. Als um 19:30 Uhr allerdings noch keine Gäste da sind und die Belegschaft in Ruhe gemeinsam isst, kommen uns so leise Zweifel, ob wir wohl die einzigen sein werden? Aber das ergäbe überhaupt keinen Sinn, nach all der Vorbereitungsarbeit. Gegen 20 Uhr wird uns das Herumstehen zu langweilig und außerdem wird es uns zu kalt. Darüber hinaus stinkt es immer wieder nach Schwefel – ein Nebeneffekt des nahegelegenen „Riserva Naturale di Tor Caldara“, wie wir später erfahren sollten – und wir nehmen Platz im Restaurant. Und siehe da, es dauert nicht lange und der Strom der Hungrigen beginnt bis alle Plätze des Saals belegt sind. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin kommen alle kurz nach 20 Uhr. Und als wir da so sitzen, zwischen hausgemachten Vorspeisen, Pasta wie sie italienischer nicht schmecken könnte und Salsiccia am Spieß, verstehen wir auch, warum sie gekommen sind. Eine richtig tolle Bauernküche – keine 100 Meter vom Aufwachsen der Produkte bis auf unseren Teller und ungezwungenes, rustikales Ambiente. Ja, Italien, du bist eben auch ein ausgewachsenes Schlemmerland. Das macht es ja so schwer, dich nicht zu mögen.

Mit einem Capuccino aufs Haus und ohne für das Campieren bezahlen zu müssen, werden wir vom Agriturismo verabschiedet und auf die löchrigen Straßen Latiums geschickt. Beim Kaffeestop im nächsten Ort sehen wir eine Rennradgruppe von mindestens 12 Mann, die dort ebenfalls eine Pause einlegen.

Ich frage mich, wie sie das machen – fällt es mir doch bereits schwer, hinter Molle mit so viel Voraussicht herzufahren, um nicht plötzlich und tief in einem der Schlaglöcher zu verschwinden, die leider meist auch genau auf unserer „Fahrspur“ am Rand der Straße lauern. Einmal gelingt es mir nicht, da ich zu sehr auf den Rückspiegel fixiert bin, und ich lande mit dem Hinterrad heftig im Loch. Doch das Rad „muckt“ nicht – die Investition in neue Laufräder mit verstärkten Speichen und extra stabilen Felgen hat sich bereits heute gelohnt.

Um ehrlich zu sein, Etappe 1 ab Rom können wir bis auf die ersten Kilometer der Via Appia nicht als radtechnisches Highlight verbuchen. Schlechte und enge Straßen, keine Nebenrouten und viel zu viel und zu schneller Verkehr. Kurz überlegen wir, gleich wieder in den Zug zu hüpfen und direkt nach Neapel zu fahren. An diesem Morgen scheint aber die Sonne, wir haben gut geschlafen und die Pasta und die Salsicche von gestern Abend haben uns bestens gestärkt. Zudem verspricht der Eurovelo 7 heute längere Strecken direkt an der Küste, fernab von „gelben“ und „orangenen“ Linien auf unserer Karte. Let’s give it a try!

Wenig attraktiv, dafür aber wenigstens einigermaßen verkehrsberuhigt rumpeln wir über die vernarbten Straßen Latiums. Garniert wird das Ganze von Sesseln, Matratzen, sackweise Müll und anderen Feinheiten – unter anderem halb im Wald versteckte, kaum bekleidete Prostituierte – am Straßenrand. (Mehr zum Thema Menschenhandel am Ende des Berichts).

Na ja – der Mezzogiorno wie er im Buche steht. Bei Borgo Sabotino treffen wir allerdings auf den „Lido di Latina“ und die daran entlangführende Promenade. Das sieht doch gleich viel besser aus. Und als wir ins Naturschutzgebiet des Parco Nazionale del Cicero eintreten und auf dem schmalen Pfad zwischen Mittelmeer und Lago die Fogliano kurbeln bzw. durch etwas tieferen Sand auch schieben, sind wir selig. Endlich mal keine Autos! Früher waren die aber wohl auch mal hier, werden an einigen Stellen noch abgebrochene und teils weggespülte Reste eines Teerbands unter dem Sand sichtbar.

Wir hoppeln und schieben und kurbeln weiter, bis wir wieder auf befestigten Wegen am Lago di Caprolace weiterfahren und schließlich am späten Nachmittag in Sabaudia eintrudeln. Hier haben wir schon ein kleines Zimmer vorgebucht, da die nächsten Stunden heftige Regenfälle versprechen. Morgen Mittag soll der Spuk erst mal vorbei ein und wir können hoffentlich trockenen Rades weiter.

Sabaudia ist eine am Reißbrett geplante und aus den pontinischen Sümpfen gestampfte Stadt, die Mussolini 1934 „erbaut“ hat. Tatsächlich hat er wohl sogar in die Entwürfe und Pläne seines jungen Architektenteams eingegriffen und mitgemischt. Die Stadt ist in ihrer Funktion und ihrem Aussehen angeblich eine der wenigen im faschistischen Stil (bzw. ist es wohl der Stil des „italienischen Rationalismus) erbauten Städte, die so erhalten sind. Man sieht es auf den ersten Blick und ein paar markante Bauwerke wie das Rathaus oder das alte Postamt sind unverkennbar.

Das Wissen um diese Tatsache lässt einen gleich ein wenig mit einem komischen Gefühl durch die Stadt gehen – welche Art von Menschen leben wohl hier? Und tatsächlich interessant: Laut Wikipedia setzt sich der gesamte Gemeinderat aus rechten und rechtsradikalen Parteien zusammen und Kritik am „Duce“ findet sich nirgendwo in der Stadt. Vielmehr wohl vielerorts noch Bewunderung. Es scheint, dass solch ein Ort ein Anziehungspunkt für Faschisten ist. Selbstverständlich leben hier aber ja auch andere Leute und an unserem Abend wechseln wir durch mehrere Bars und eine Pizzeria und es fühlt sich ziemlich so an wie in anderen italienischen Städten.

Wie erwartet regnet es noch in der Früh, doch wir dürfen noch bis 11:30 in unserem Zimmer in einem Mehrfamilienhaus bleiben und biegen dann wie angekündigt bei Sonnenschein auf den Eurovelo 7 – auch Civlovia del Sole – ein und fahren schnurgerade auf den Monte Cicero zu, der am Südende des Nationalparks thront.

Auf dem folgenden Abschnitt bis Terracina hänge ich meinen Gedanken nach. Als Kind waren wir oft hier und haben wundervolle Italien-Urlaube mit einer befreundeten Familie erlebt. Es ist wirklich lange her und so richtig kann ich mich nicht an die Umgebung erinnern. Erst als wir an die Strandbude „Il Gabbiano“ kommen, sehe ich mich am Strand Beach-Ball spielen und mit meinem Bruder im Meer toben. Dazu die ofenfrische Pizza von „la mama“ und die internationalen Fußballabende während der WM 1990 – am Ende waren wir fast eine deutsch-italienische Familie. Jetzt ist alles verrammelt, alles noch im Winterschlaf und die Besitzer auch nicht mehr die alten.

Etwas sentimental kurble ich weiter an der Promenade – der Wind trocknet die ein oder andere Träne. Man kann eben nichts festhalten – umso mehr gilt es, den Moment zu genießen!

Kurz hinter Terracina bleibt schlagartig keine Zeit mehr für Gedanken, die Gegenwart fordert komplett! Auf der SR 213 (strada regionale) donnern plötzlich tonnenschwere LKWs, die Straße ist deswegen aber nicht breiter. Hier fühlen wir uns echt unwohl. Die Küstenstraße wäre eigentlich recht hübsch, wir bekommen den Blick aber kaum mal weg aus dem Spiegel. Über den ein oder anderen schmalen Weg, den wir aus der Karte fischen, schaffen wir es dann aber unbehelligt nach Sperlonga, genauer auf einen kleinen Agri-Camping kurz vor der Stadt. Als sich beim „Agrimare“ die schweren Cortenstahl-Tore öffnen, treten wir ein in ein kleines Paradies.

Wir bekommen einen superschönen Zeltplatz und bleiben gleich mal zwei Tage. Sperlonga ist nämlich ein „touristisches Highlight“, wie das Internet verrät. Und jetzt in der Vorsaison könnte das sogar noch ganz gemütlich sein!

Kalter Wind weht an der Uferpromenade von Sperlonga.

Sperlonga war besonders in den 50er Jahren bei der italienischen Schickeria sehr beliebt und man kann auch das gut nachvollziehen, sieht es doch bezaubernd aus auf seinem Felsvorsprung und in den kühlen, verwinkelten, aber doch hellen (weiße Häuser) Gassen findet sich so manche nette Bar zwischen den Wohnhäusern.

Im kleinen Restaurant Al Vignale in der Unterstadt gönnen wir uns eine Flasche lokalen Wein – einen Vermentino von einem Weingut in Richtung Itry – und ich greife zu den hier überall angepriesenen „Spaghetti con vongole lupini“.

Diese kleinere Muschelvariante macht sich sehr gut auf der Pasta. Wir warten gemütlich den für Abend angekündigten Regenschauer ab, was eine gute Entscheidung ist, denn es regnet recht heftig.

Sperlonga trohnt auf einem Felsmassiv über dem Meer. Die beiden Buchten zur rechten und zur linken Hand sind für ihren feinen, gelben Sand berühmt. Noch sind keine Badegäste da – ein eisiger Wind pfeift die Promenade entlang und die Sonne versucht alles dagegen zu setzen. Unser Pausetag führt uns zur Grotte des Tiberius. Das Museum ist geschlossen, aber man sieht die Überreste seiner Villa und vom Strand aus den Eingang zur Grotte und kann sich durchaus vorstellen, wie der zweite Römische Kaiser hier dekandete Bankette abgehalten hat. Im Moment allerdings kämpfen zwei Männer in Froschanzügen mit Bändelmähern gegen die Algenpracht in den Becken vor der Grotte. Die Sommersaison naht – Aufräum-, Renovierungs- und Reinigungsarbeiten überall.

Nach der entspannenden Sightseeing-Pause geht es für uns nicht auf der Küstenstraße weiter – wir haben uns entschieden den LKWs erst mal „ciao“ zu sagen und kurbeln stattdessen direkt aus dem Ort hinauf in die Berge. Eine landschaftlich wunderschöne Strecke führt nach Itri im Landesinneren. Die Straße schlängelt sich an den Hängen entlang nach oben und gibt immer wieder traumhafte Blicke auf Sperlonga und die etwas entfernt liegenden Inseln Ponza und Capri frei. Verkehr ist hier fast ein Fremdwort. So mögen wir das!

Nach etwa 400 Höhenmetern und nur 15 Kilometern ist der Spaß aber auch schon wieder vorbei. Im Ort treffen wir auf die Via Appia – hier allerdings ganz und gar nicht mehr historisch-romantisch. Sie heißt auch ganz schnöde „SS 7“. Entsprechend schwer ist der Verkehr auch hier. Ein paar Kilometer müssen wir das noch etragen, dann biegen wir rechts ab zum Bahnhof Itri. Eine Stunde später schieben wir die Räder in den „Regionale“ nach Neapel! Fahrradtechnisch gibt es für uns auf den nächsten 90 Kilometern nichts zu verpassen und wir schonen unsere Nerven beim Blick aus dem Zugfenster. So passieren wir auch im Zug und nicht auf dem Rad den ehemals malerischen Badeort „Castel Volturno„, der mittlerweile eine Hochburg der nigerianischen Mafia ist. Nigerianische Mafia bei Neapel? Ja. Wer mehr lesen will findet viel Material auch bei ZDF, deutscher Welle und ARD oder auch hier.

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