06.05.2010 (m,k) – Besichtigungstag in Nagasaki
Volle zwölf Stunden dürfen wir unser Internetböxle belegen und da wir gestern Abend erst nach 20 Uhr eingecheckt haben, können wir trotz nächtlicher Büroarbeit (Berichte müssen nachgeschrieben werden) ausschlafen. Der Wetterbericht hat ohnehin „rain at times“ angekündigt und nach zwei drei Runden am Kaffeeautomat stehen wir auch schon auf der nassen Straße. Das Wetter spielt aber für den heutigen Tag nur eine sehr untergeordnete Rolle. Auf dem Weg zum chinesischen Konsulat schließen wir rasch unser Gepäck in ein großes Schließfach am Fährhafen, damit sind wir endlich mal „leicht“ unterwegs. Das elektronische Helferlein führt uns zielsicher ins Gebiet, wo das Konsulat vermutet wird. Als wir am Endpunkt der grünen Linien eintreffen, stehen wir aber nur zwischen ein paar unscheinbaren Häusern. Hier residiert doch kein chinesischer Konsul! So ist es auch, von einer wehenden Flagge oder ähnlichen Hinweisen ist nichts zu sehen. Wir schleichen ein wenig um die Ecken, entdecken aber nichts. Hat eigentlich jemand die Adresse notiert? Betretenes Schweigen bei den Teilnehmern der China-Visa-Exkursion. Dicht gefolgt von:“Wir sind echt immer gleich bescheuert.“ Kein Widerspruch. Ich riskiere das Surfen mit meinem Handy, um die Adresse herauszugoogeln. 100 KB kosten etwa 50 Cent, was schnell teuer werden kann. Mit Spezialsoftware und einigen Kniffen ist es mit 92 KB geschafft. Wir haben die Adresse. Immerhin. Auf einem Zettel notiert dient sie uns als einziges Hilfsmittel beim Ansprechen von Passanten. Wir können ja kein Japanisch, die Japaner kein Englisch. Unser erstes Opfer ist ein älterer Mann vor seinem Haus. Er lächelt nur, druckst ein wenig herum, blickt hilflos zu seiner Frau, die in eine Richtung zeigt: da lang. Gut, dann fahren wir mal „da lang“. Schnell wird ein weiterer Passant gestoppt, der so freundlich ist, seine Ohrstöpsel herauszunehmen (wobei er das nicht hätte tun müssen, da zwischen uns ja ausschließlich nonverbale Kommunikation stattfindet). Er weist in die exakt andere Richtung als die Dame. Er wirkt halbwegs kompetent, also Kehrtwende. Als wir am Peace Memorial stehen, hauen wir einen Taxier an. Die kennen sich doch aus! Er meint „five minutes by bike“ – in wieder exakt die andere Richtung! Ich mutmaße schon, dass wir noch ein paar Stunden die immergleiche Straße rauf und runter fahren müssen. Diesmal treten wir – im unterdessen recht starken Regen (die Regenkleidung lagert im Schließfach – hatte ich schon erwähnt, dass wir manchmal ziemlich besch…lassen wir das) weiter zu einem Kombini. Hier hat man wenigsten eine neue Richtung auf Lager. Diese führt uns in ein Wohngebiet, das ein bisschen mehr nach Konsulat aussieht. Ein Ehepaar berät lange, sehr lange…und zeichnet dann einen genauen Lageplan zu einer Polizeibox auf. Die könnten uns doch sicher helfen. Und endlich spricht dort mal jemand Englisch. Aus einem zehn Zentimeter dicken und DIN A3-formatigen Buch kopiert die Freundin und Helferin einen Lageplan des Zielgebiets heraus und markiert den gesuchten Ort. Wenn die das immer so machen, möchte ich nicht im Notfall bei der Polizei anrufen: Ja, Moment mal, wie war die Adresse, ja, ich hole mal das dicke Buch…wie, sie werden bedroht? Hallo? Hallo? Noch jemand dran?
Jedenfalls gelingt es uns, mit dem Lageplan das Objekt zu finden. Und nun die Pointe: Es liegt genau gegenüber der Abzweigung, an der uns das GPS nach rechts geschickt hat.Vollkommen fixiert auf das Helferlein übersieht man schonmal ein Gebäude in Größe eines Kindergartens mit einer stramm wehenden chinesischen Flagge im großzügig angelegten Garten. Bevor jetzt alle lospoltern, wie man nur so technikverbohrt sein kann, dem sei gesagt: ohne den Helfer, wäre die Adresse, die ja sogar für Menschen, die nur 100 bis 500 Meter davon entfernt wohnen, unbekannt ist, absolut unauffindbar. Es ist in etwa so, wie wenn man eine Adresse in München bekommt, die lautet: Schwabing, 35 – 10. Wie soll man als Auswärtiger wissen, wo in München man Schwabing zu suchen hat, wenn man keine Schrift lesen kann. Und was um Himmels Willen bedeutet dann 35 – 10? Straßennamen gibt es keine bzw. es gibt welche, aber die sind nicht Teil der Adresse. Es muss sich um Blocks und Häuser handeln. Das System verstehen wir aber in der Kürze der Zeit nicht wirklich. Offenbar haben damit ja selbst Einheimische Probleme. Wir geloben aber insoweit Besserung, als das wir im Zielgebiet die Äuglein etwas besser aufsperren werden.
Das Visumsprozedere verläuft dafür zu unserer Freude umso unspektakulärer. Gegen den üblichen Aufpreis von ca. 100% kann das Visum bereits morgen abgeholt werden. Zufrieden ziehen wir von dannen. Erstmal was trinken und essen. Schließlich folgt nun der unangenehme Teil des Tages: das Befassen mit dem Schrecklichsten Teil der Geschichte Nagasakis.
Der Weg führt uns erneut zum Friedensdenkmal, hinter dem ein kleiner Skulpturenpark angelegt ist, der mit Figuren aus aller Welt bestückt ist, die anlässlich des schrecklichen Ereignisses gestiftet wurden. Deutschland ist nicht vertreten, dafür aber die DDR. Hier in der Nähe befindet sich das „Hypocenter“, der genaue Ort der Detonation. In unmittelbarer Nachbarschaft die Urakami-Kathedrale, die durch die Explosion fast vollständig zerstört wurde. Es dauerte gut drei Jahrzehnte, sie zu erbauen, drei Sekunden, sie zu vernichten. Unweit der Kathedrale, die wir wegen einer gerade stattfindenden Beerdigung nicht besichtigen, kann die Gedenkhalle besucht werden. Sie wurde erst 1996 erbaut und ist – soweit wir das als Laien beurteilen können – architektonisch beeindruckend. Das Innere besteht aus Sichtbeton, in den Zedernpanele gedrückt wurden, wodurch die Maserung im Beton sichtbar wird. Zusammen mit der Beleuchtung entsteht der Eindruck von Holzwänden und -decken. Kleine Räume sind mit Infotafeln ausgestattet. Kurz darauf wird man wieder in lange Gänge entlassen, die so schlicht sind, dass man durch nichts abgelenkt wird. Man muss einfach nachdenken und erinnern. Eindrucksvoll unterstützt hier die Architektur den Zweck des Bauwerks. Sollte dies – lieber Matthias Rückert – gar immer so sein? Sind wir im Begriff, etwas zu verstehen? Die eigentliche Gedenkhalle besteht aus zwölf riesigen Glassäulen, die genau auf eine Säule hinführen, in der Boxen gelagert sind, in denen die Namen aller Toten der Bombe liegen. Steht man vor der letzten, der 13. Säule, blickt man genau in Richtung des Hypocenters. Dies kann einen nicht kalt lassen. Die Gedanken an ein so schreckliches Ereignis, die Einzelschicksale und Tragödien lassen einen erschaudern. Nicht wirklich besser geht es einem nach dem Besuch des angrenzenden Museums:Es wurde auch im Zuge des 50sten Jahrestages der Bombardierung eröffnet. Am 9. August 1945 wurde der „Fatman“ um 11.02 Uhr über Nagasaki abgeworfen und explodierte in 500m Höhe. Die Folgen in nüchternen Fakten: 73884 Tote, 74909 Verletzte bei einer damaligen Einwohnerzahl von 240000. Nagasaki war nur das „Zweitziel“. Das „Erstziel“ im Norden Kyushus konnte wegen des schlechten Wetters nicht anvisiert werden. Und auch Nagasaki lag damals im dichten Nebel. Die Piloten des B-29 Bombers waren kurz davor wegen Treibstoffmangels umzudrehen, als die Wolken eine Lücke freigaben und sie diese nutzen, um das Inferno über die Stadt zu bringen. Wir stellen uns vor, was vielleicht gewesen wäre, hätten sie die Bombe an diesem Tag nicht abgeworfen. Aber wie mit allem: die Wege, die nicht eingeschlagen werden, kennen wir nicht. In den Räumen des Museums bekommen die Fakten Beine. Vorher-Nachher-Bilder zeigen das Ausmaß des Desasters. Eine Stadt wurde einfach weggeblasen. Die Zerstörungskraft dieser Bombe entsprach 21 Kilotonnen TNT. Durch die Hitzestrahlung erhöhte sich die Temperatur innerhalb von zwei Sekunden nach der Explosion auf 3000 Grad. Die Bilder der verkohlten Menschen in den Straßen, von zusammengeschmolzenen Eisenträgern oder Flaschen veranschaulichen das. Besonders eingeprägt hat sich mir ein Klumpen Glas, das aufgrund der extremen Hitze geschmolzen war, auf dem die Knochen einer menschlichen Hand kleben. Es ist unvorstellbar, einfach immer wieder unvorstellbar, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Interessant finde ich auch, dass bereits 1943 klar war, dass die Atombombe gegen Japan eingesetzt werden sollte. Sie wurde jedoch erst Anfang August 1945 fertig, noch kurz in der mexikanischen Wüste getestet und dann in Hiroshima und Nagasaki ausprobiert. Den gesamten geschichtlichen Hintergrund erfährt man im dritten Teil des Museums. Es ist wieder einmal zu viel für einen einzigen Besuch, man könnte noch lange lesen und schauen. Schön zu sehen ist, dass Japan sich historisch hier nicht schont und keinerlei Schuldzuweisungen oder parteiische Informationen zu finden sind. Hier wird wirklich – soweit das möglich ist – objektiv informiert.
Trotz all der Fakten, Bilder, Animationen und Videos melden sich auch wieder menschliche Bedürfnisse in Form von Hunger und Durst. Bereits gestern Abend hatten wir ein „Running Sushi“ (das sind die Lokale, wo auf einem großen Förderband ständig frische Sushi an einem vorbeifahren und man nur zugreifen muss) entdeckt. Da der Wartesaal vor dem Lokal (sowas gibt es tatsächlich) so überfüllt war, haben wir auf einen Besuch verzichtet. Diesen holen wir heute Mittag nach. Und wie. 16 Teller stapeln sich am Ende auf unserem Tisch, wir sind aufs Leckerste gesättigt und müssen lediglich 12 Euro dafür berappen. Was kostet sowas nochmal in München? Als wir das Lokal verlassen, nieselt es noch immer, die Wolken hängen tief. Wir schlendern durchs Kaufhaus, finden aber nichts Interessantes und verlagern uns in ein Café, das dadurch besticht, das die zugehörige Bäckerei Backwaren vom Feinsten liefert, die sich in Frankreich nicht verstecken müssten. Ein paar Berichte müssen noch überarbeitet, einige noch nachgeschrieben werden. So sind Nachmittag und Abend schnell erzählt. Wir holen unser Gepäck, kaufen noch ein bisschen Belag für die deliziösen Baguettes und checken wieder in unser Internetböxle ein. Der Duschraum des Internetcafés ist – für eine Person wohlgemerkt – im übrigen dreimal so groß wie das gesamte Zimmer eines Business-Hotels, das wir gestern der Vollständigkeit halber mal besichtigt haben. Das muffige und verrauchte Einzelzimmer, das wir zu zweit mit 8 Euro Aufschlag hätten belegen dürfen. hätte uns gut 60 Euro gekostet. Nein, das bringen wir wirklich nicht übers Herz. Beim besten Willen nicht, wir schaffen es einfach nicht.