Mitten in …

Kunming

 25.02.-01.03.2010 (m+k)

Am Schalter mit der Nummer 15 von 20 Sonderschaltern am Bahnhofsvorplatz sieht die Schlange nicht so lang aus. Kein Schild steht vorn am „Mund“ – so lautet das Wort für Schalter in China. Es besteht daher Hoffnung, dass es aus diesem Mund Fahrkarten in jede erdenkliche Richtung gibt.  Ich bin versunken in der Masse aus ungefähr 500 Geschöpfen, die nach Hause wollen. Eine gute Stunde lang komme ich nur schleppend voran – warum, so lautet eine Philosophiefrage – steht man immer in der falschen Schlange? Zwischen zwei Eisenzäunen darf man nur einreihig stehen, dafür sorgt ein Polizist in blauer Uniform, mit Megafon und einem Gesichtsausdruck als hätte er schon zwei Jahre keinen Sex mehr gehabt. Ich werde 15 Meter zurückgedrängt, damit unsere Schlange seinen Vorstellungen entspricht. Über das Geländer klettern wird ebenso mit Geschrei und Gefuchtel geahndet wie auf dem Koffer sitzen oder am Zaun lümmeln. Strammstehen! So, wie die grünen Soldaten, die überall positioniert sind und auf den Mob starren, dass auch ja keiner aufmobt. Dabei ist Aufmoppen in China eine alltägliche Tätigkeit. Ich bin fast vorn, als es passiert: ein Mann aus der Reihe neben mir beschwert sich lautstark. Es könne nicht sein, dass drei Reihen auf einen Mund zulaufen. Mit einer Papierrolle trommelt er auf einen Eisenträger ein. Der Babysoldat vor uns brüllt ihn zusammen. Es liefen immer zwei Reihen auf einen Mund zu. Der Mann lässt nicht locker. Menschen aus den Schlangen 13, 14 und 15 gehen alle zu Schalter 14. Es ist nur jeder zweite Schalter geöffnet. Und hier läuft etwas schief. Zwei weitere Soldaten kommen dazu und brüllen mit. Was er wolle, ob er ein Problem habe, zurück in die Reihe. Verstärkung! Drei Polizisten sind auch gut im Drohbrüllen. Ein anderer Mann beschwichtigt den Aufrührer und rät ihm, sich wieder ruhig hinzustellen – er tut es, kurz bevor sie ihn sicherlich herausgezerrt hätten. Er hat Recht, aber was bedeutet das schon, in China? Ich bin dran. Ich laufe zu Schalter 14. Im Augenwinkel sehe ich, dass Schlange 13 angewiesen wird, an Mund 12 zu kaufen. Ein kleiner Triumph des Aufmobbens, der freien Meinungsäußerung, auf Messers Schneide.

Chinas Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt 530$, umgerechnet 3600 Yuan. Wir stehen an der Kasse des Kaufhauses Parkson’s. Katrin möchte ihre neues Wäschestück für 42 Yuan (4,2€) bezahlen. Wir müssen warten. Die Finger des Kassierers fliegen in atemberaubendem Tempo über das Ziffernfeld der Kasse. Jede gekaufte Ware muss über einen mehrstelligen Zahlencode registriert werden, den er den kleinen Zettelchen entnimmt, die die Konsumenten aus den einzelnen Abteilungen hierher tragen und wo – vor Aushändigung der Ware – die große Rechnung aufgemacht wird. Nicht enden will das Klappern der Tastatur. Je länger es dauert, desto länger wird auch das Gesicht des Kunden, der mit gezückter Goldkarte am Tresen steht. Daneben seine Frau oder Tochter – so genau sieht man das nicht. 4260 Yuan!  Schweißperlen zieren seine Stirn, tiefe Furchen zeichnen sich zwischen seinen Augen ab als er den Zahlenwust mit dem Taschenrechner kontrolliert. Ob ein Jahr Arbeit reicht, bis sein Konto wieder gedeckt ist?

Er steht links am Gehsteig. Die Ladefläche des Transportfahrrads hat er zum Verkaufstisch umfunktioniert. Er ist müde und starrt in die dunkle Nacht. In der Nähe hört man Feuerwerkskörper, die zum Abschluss des Frühlingsfestes gezündet werden. Es ist ein Familienfest, er sollte nicht hier stehen müssen. Der Wind braust ihm durchs dunkle Haar. Wir eilen vorbei. Halten inne. Kehren um. Wir wählen einen Bund mit etwa 5 Bananen. Er lacht kurz auf – so wenig lohnt sich nicht zu wiegen. Immerhin zwanzig Cent verdient.

Das Laternenfest (Yuánxiāojié) bildet den Abschluss der Neujahrsfeierlichkeiten am 15. Tag nach dem Neujahrsneumond. Der Mond steht in vollrunder Pracht über der Stadt. Von Laternen, die überall aufgehängt werden, ist die Rede. Und von Tiger- und Drachentänzen. Ich versuche auf dem Platz vor der Arbeiterkulturhalle mein Glück. Von der nebenan gelegenen Rollschuhbahn dröhnt der Discolaufsound, alle rollschuhen im Kreis. Auf dem Platz sind einige Hundert Menschen, doch von Laternen keine Spur. Stattdessen wird getanzt und beim Tanzen zugesehen. Kunming tanzt nicht im Kollektiv, Kunming tanzt in Gruppen. Wobei jede Gruppe aufgrund ihrer Größe wiederum ein Kollektiv zu sein scheint.  150 Menschen bewegen sich zu Aerobicmusik in Haufenaufstellung, 20 Menschen zu undefinierbaren Klängen mit traditionellen Tanzbewegungen. Drei Leute versuchen, der Choreographie eines Meisters im goldenen Kostüm und seinem Assistenten im T-Shirt mit amerikanischer und englischer Flagge zu folgen. Es scheint komplex. Um einen Haufen abgestellter Fahr- und Motorräder hat sich ein Doppelkreis von über 200 Menschen gebildet. Eine Art Chinesischer Sirtaki – mit der Bandbreite vom 70-jährigen Trachtträger bis zum Jeansboy im Muskelshirt, der es sogar noch fertig bringt, dabei zu telefonieren. Leuchtend buntes China, auch ohne Laternen.

Gegenüber unseres Hotels ist die Filiale einer Nudelsuppen-Kette. Wir gehen gerne auf eine schnelle Schale dorthin. Am liebsten essen wir die Lou-Mien, Eiernudeln mit einer Hackfleisch-Nussmischung. Wir sitzen in hinteren Bereich an einem der eckigen Holztische und befördern die Leckerei mit den Stäbchen in unsere Münder. Es ist kurz vor Geschäftsschluss. Ein junger Mann in der roten Uniform der Firma moppt schon seit geraumer Zeit den Boden. An unserem Tisch hält er inne, grinst und meint, wir hätten ja in den letzten Tagen nun schon drei Mal diese Nudeln gegessen. „Hen haochi“ – sehr lecker, meint Katrin. Woher wir seien? „Deguo.“ – Deutschland. Er lacht: „Deguo“. Und moppt weiter.

Unser Hotel hat keine Möglichkeit unsere Fahrräder aufzubewahren. Das erledigt eine Familie nebenan. In zwei leer stehenden, kalten Räumen wachen abwechselnd er oder sie über Zweiräder aller Art. Nie haben wir genau verstanden, wie viel das eigentlich kostet und ob man vorher oder nachher bezahlt. Wir machen es deutsch, treten in Vorleistung und geben pro Fahrrad 10 Cent. Jedes Mal schaut uns der Mann mit großen Augen an, doch bevor er etwas sagen kann, sind wir schon lächelnd und grüßend hinausgetreten. Neulich, als wir erst spät zurück kamen, mussten sie extra für uns nochmal den Rollladen hochmachen. 50 Cent war uns das wert und wieder ernten wir ungläubige Blicke. Kürzlich parkten wir dann vor einem großen Kaufhaus. Sechs, zeigt der Mann mit seinen Fingern. Sechs Yuan – 60 Cent. Das ist aber teuer! Er lacht, nein, nein, sechs Jiao – 6 Cent.

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