09.10.2009 (k) – Shuajingsi – Wenchuan (größtenteils mit Bus): 20km, 215Hm
Gerne hätten wir ja gestern Abend noch Barkam (Maerkan) erreicht, doch als wir uns hier in Shuajingsi erkundigten, ob noch ein Minibus oder Bus fährt, wurde dies verneint – morgen früh um 8.00 wieder. Und von der „großen Straße“ – die in 8km von links einmündet? Könnte man dort vielleicht einen Bus anhalten, der vorbeikommt? Nein, heute sicher nicht mehr. Überhaupt gäbe es da gar keine große Straße – die Straße würde sich in 8km einfach nach Westen wenden – und gut sei sie auch nicht. Soviel glaube ich zu verstehen – und auch wenn wir es nicht so ganz kapieren, denn auf unserer Karte ist deutlich eine „rote“ (also dicke Hauptverkehrsstraße) von Chengdu kommend eingezeichnet. So sind wir eben geblieben. Und jetzt – keine 17 Stunden später – spüren wir unter den Reifen die wahre Bedeutung der chinesischen Laute vom Vortag: 8km schmale Straße winden sich noch das Flusstal hinaus – mal mehr mal weniger als Baustelle, dann kommt von links eine ebenso kleine Straße heran (das soll wohl die „große“ sein) und ab jetzt fällt die Qualität der Straße nochmals deutlich ab: fast kein fester Belag mehr, Löcher, Schlamm, Pfützen, eng in der Schlucht, teilweise bröckelig wirkende, steil aufragende Wände, aber etwas mehr Verkehr. Das Ganze sehr mühsam zu fahren – wie matschige Regenwürmer im Gegenwind kriechen wir entlang. 20km nachdem wir unser Hotelbett verlassen haben, stoßen wir auf eine Abzweigung: eine neue Brücke mit gut ausgebauter Straße windet sich nach links den Berg hinauf (auf keiner unserer Karten verzeichnet), „unsere“ Straße führt weiter geradeaus. Wieder einmal ist die Verzweigung ein guter Posten für eine Polizeikontrollstation, wie immer mit 4 Soldaten, die in 4 verschiedene Richtungen aus einem Glashaus heraus mit Gewehr im Arm das Geschehen beobachten und zwei Polizisten hinter einem provisorischen Schreibtisch. Aha, die neue Straße führt also nach Chengdu, erfahre ich von einem der Soldaten, der auf meine Frage hin seine versteinerte Haltung aufgegeben hat um mir zu antworten. Wir schlagen den Weg geradeaus ein und wollen routinemäßig unsere Pässe aufschreiben lassen und zügig weiter – bei diesen Straßenverhältnissen wird aus den noch ausstehenden 55km sowieso noch eine tagesfüllende Aktion! Doch wie? Nein, wir können hier nicht weiterfahren? Regen!? Ja, das merken wir! Schlechte Straße!? Ja klar, doch das schon länger! „Bu neng“ – sagt der Polizist in seiner Reflektorenweste. „Bu neng“ – wir dürfen nicht! Das ist zu gefährlich, die Straße zu eng, Regen, Erdrutsche. Naja, verlockend klingt das nicht. Aber wenn wir hier nicht durchkommen, ist unser ganzer Plan, die nächsten 8 Etappen nach Süden zu radeln, im Eimer. Wir wissen, es macht keinen Sinn zu diskutieren – und irgendwie wollen wir auch gar nicht. Dafür ist die aktuelle Wetter- und Straßensituation ebenso verantwortlich wie die nicht gerade rosige Perspektive, die nächsten 8 Tage bei vielleicht ebensolchem Wetter enge Flusstäler entlang zu strampeln bei Etappenlängen von bis zu 120km. Fahrradtechnisch bietet sich an dieser Stelle keine Alternative. Wir fragen, ob es die Möglichkeit gibt, einen Bus von hier Richtung Chengdu zu besteigen, um das Gebiet verlassen zu können. Die Polizisten bejahen und wollen uns dabei helfen, einen anzuhalten. Mit etwas gemischten Gefühlen säubern wir die Räder und unsere schlammverschmierten Sachen soweit es geht und verpacken die Drahtesel in die bike-Taschen. Eine halbe Stunde später durchfahren wir den 4,4km langen Tunnel in einem Bus nach Wenchuan. Sogleich nach dem Tunnel verwandelt sich der Flüsterasphalt in Dreckschlamm: auf den gesamten 200 folgenden Kilometern quält sich der Bus über eine Baustelle. Nur noch wenige Abschnitte sind geteert, nur einige Kilometer des neuen Highways bereits fertig gestellt. Stattdessen überall ein paar Bauarbeiter, die Steine schleppen, Seitenmauern aufstapeln und mit Zement befestigen, die Kies, Sand und Steine trennen, die mit bloßen Händen und einfachen Geräten dafür sorgen wollen, dass der Highway nächstes Jahr fertig ist. Kurz vor unserem Ziel sind alle LKWs, Busse, Kleinlaster, Jeeps und Minibusse so über die Schlammpiste verteilt, dass eine knappe Stunde gar nichts mehr geht – für den Gegenverkehr gilt das übrigens schon längere Zeit – eigentlich fährt meist nur unsere Seite (immerhin!). Mit Einbruch der Dunkelheit erreichen wir nach 8 Stunden Fahrt die Stadt Wenchuan. Von meinem Sitznachbarn, der hier wohnt, habe ich erfahren, dass das Erdbeben im Mai letzten Jahres genau hier war – nicht, wie wir bisher angenommen hatten, im etwas nördlich gelegenen Beichuan. Je näher wir Wenchuan kamen, desto höher war auch die Dichte neu gebauter Häuser bzw. der Baustellen. Da aber überall in China neue Häuser gebaut werden, nicht unbedingt ein Zeichen für die Zerstörung – jetzt aber erklärbar.
Wir finden ein ordentliches Hotel – auf unserer Restaurantsuche laufen wir ein wenig durch die Stadt – hier scheint auf den ersten Blick nicht so viel zerstört worden zu sein. Doch es ist dunkel und unser Radius sowie unsere Sicht sind beschränkt. Wir können uns kein Bild machen. Irgendwie ein beklemmendes Gefühl jetzt hier zu sein – die Dunkelheit, das Nieselwetter und die Bergschlucht mit dem braunen, reißenden Min Fluss in der Mitte mildern dieses Gefühl nicht gerade ab. Hier schickt uns die chinesische Polizei also hin – und hätte uns sogar radeln lassen! Seltsam manchmal, diese Entscheidungen. Wir sind nur froh, die letzten 200km im Bus und nicht auf dem Rad zurückgelegt zu haben. Auch wenn wir sind, wo wir nicht hinwollten.