Es ist stockdunkel und es regnet, als ich aus dem Fenster den Grünten anschaue. Eigentlich habe ich jetzt echt keine Lust, wieder aufzubrechen! Die Tage sind vor dem Winter schon recht kurz, die Temperaturen niedrig.
Das vertraute Heim mit allem Komfort schon wieder tauschen gegen das Nomadenleben auf dem Fahrrad? Aber hey, die Erfahrung lehrt mich doch, dass es da draußen so viel zu sehen gibt und wenn man erst mal unterwegs ist, dann macht es doch wieder Laune. Und der Plan, der ist gut: So wie damals in den Oman und nach Indien, wollen wir wieder ein Schiff nutzen, um auf die Kanaren zu gelangen – und später von dort weiter nach Marokko. Im Spätwinter von Agadir durch die Wüste, dann quer durchs Land und im Frühsommer noch mal durch unser unterdessen sehr geliebtes Spanien. Am 17.11. legt das Kreuzfahrtschiff zur Transreise Barcelona – Teneriffa ab.
Es ist der 13.11. und der erste Schritt zum neuen Abenteur führt jetzt halt doch hinaus ins kalte Grau, hinein in den VW-Bus, der uns und unsere Fahrräder nach Lindau bringt.
Von dort geht es per Zug über Feldkirch, Zürich und Genf bis ins beschauliche Örtchen Culoz, das zwischen dem Lac du Bourget und dem prestigeträchtigen Grand Colombier schlummert. Schlummert? Zumindest jetzt, Mitte November. Die Rennradfahrer, sie sind längst nur noch auf ihren smarten Rollen in heimischen Wohnzimmern unterwegs und nicht mehr auf den steilen Rampen der Region Rhône Alpes. Und was wollen wir in Culoz? Nach der langen Zugfahrt aus dem Allgäu sind wir am Ende des Tages angekommen, es geht nicht weiter, höchstens ins dunkle, kalte, verregnete und teure Lyon könnten wir noch fahren. Wir bleiben lieber im dunklen, kalten und verregneten Culoz, im einzigen Hotel des Ortes, denn der Campingplatz ist auch schon lange im Winterschlaf, zu ungemütlich wäre es eh. Im kleinen, alten „Le Cardinal“ mit dem sympathischen und herzlichen „Patron“ Raimond brennt noch Licht. Wir treten ein. Das Haus, es muss glorreiche Zeiten erlebt haben! Die Küche, aus der sicher beste französische Gerichte kamen, sie ist fast leer. Ein paar traurige Töpfe an der Wand und ein viel zu großer Herd für eine kalte Küche sind stumme Zeugen vergangener Tage. Aber das Haus lebt noch, dank Raimond. Seine Geschichte muss herzzerreißend sein, aber wir fragen nicht. Wir werden lächelnd empfangen und in unser Zimmer geführt. Alte, schwere Teppiche, große, knarrende Schränke, warm, gemütlich.
Beim örtlichen „Döner“ werden uns vom „Chef“ noch die letzten Fetzen des Tages in ein Fladenbrot gepresst. Schmeckt ok und wir verschlingen ihn stilecht.
Beim Schlendern zwischen den wenigen Häusern entdecken wir noch eine Pizzeria, in der wir ebenfalls einen Teigfladen ergattern. Der Verdauungsspaziergang führt uns durch eine fotogene Gasse und wir nehmen uns vor, im Sommer wieder hierher zu kommen – der Grand Colombier fehlt doch noch auf unserer Liste.
Früh am nächsten Morgen versorgt uns Raimond mit zwei starken Espressi und schon stehen wir im Morgengrauen am Bahnsteig, umringt von pendelnden Menschen, die wahlweise von müden Blicken, Klapprädern, Aktenkoffern oder E-Scootern begleitet werden.
Wir rumpeln nach Lyon und nutzen die Umsteigezeit für einen Ausflug zu „Les Halles Paul Bocuse“.
Wenig später flitzen wir mit dem OuiGo nach Nîmes.
Diese Stadt hatten wir bei früheren Reisen gerne ausgelassen – warum auch immer.
Das unschlagbar günstige Ibis Budget Hotel liegt 200 m südlich des Bahnhofs und ist für Durchreisende wie uns genial! Günstig, sauber, gut – allerdings auch ohne Raimond’sche Herzlichkeit. Vor zwei Tagen war alles noch nass, kalt und grau – in Nîmes sticht mich zur Begrüßung gleich mal ein Mücke in meine kurzbehosten Beine.
Willkommen im Süden. Als wir den sonnigen Nachmittag der südfranzösischen 150 000-Einwohner -Stadt genießen – so z.B. das Amphietheater, das Maison Carée, die Jardins de la la Fontaine – da kommt mal wieder das Gefühl auf, am richtigen Ort zu sein.
Am nächsten Morgen reiten die Helden weiter.
iesmal mit dem TER bis zur französich-spanischen Grenze bei Cerbère/Port Bou.
Der sonnige Nachmittag lockt uns noch auf die Räder und so fahren wir zum wiederholten Male, aber nicht minder freudig, den als reinsten Genuss zu bezeichnenden Col de Frare.
Wir kurbeln noch ein wenig weiter bis Llanca, von wo uns der Zug in unser Abendquartier nach Figueres bringt. Wenig spektakulär verbringen wir die Nacht einige Kilometer außerhalb der Dalí-Stadt in einem Gewerbegebiet.
Eine weitere Zugfahrt Richtung Barcelona an die Costa Brava ersparen wir uns, die erste „echte“ Etappe lockt. Gut 50 Kilometer sind es von Figueres bis nach Girona, der europäischen Hauptstadt der Rennradfahrer. Auf Nebenstraßen genießen wir das herbstliche Katalonien.
Es läuft gut und wir kommen schon am frühen Nachmittag an.
Das sehr zentral gelegene Hotel Bestprice (heißt wirklich so) ermöglicht uns einen guten Zugang zur wunderschönen Stadt, die wir am Nachmittag per Rad und abends noch zu Fuß erkunden.
Am Vormittag des 19.11. sind zwei glückliche Sabbatradler mit ihren Fahrrädern im Rodalies nach Barcelona. Sechs Tage, sechs Nächte, ein paar Zugfahrten und eine Radetappe später sind wir wieder mittendrin im Reisen – und es fühlt sich verdammt gut an! Vom Bahnhof Sants ist es nurmehr ein Katzensprung bis zum Hafen. Schon von weitem sehen wir unser Schiff (als letztes in einer Reihe von Riesenschiffen) – Kanaren, wir kommen!
Was dann folgt, ist schon sehr schön, aber nicht spektakulär. Einmal Aida, immer Aida.
Die Seife riecht genauso wie auf dem Weg nach Dubai nach Indien, nach Antalya. Es ist wieder voll und voll professionell. Perfekt organisert und orchestriert!
Wir mögen das alles eigentlich nicht sooo gern, aber wir sind froh, dass wir auf diese Weise langsam auf See reisen können. Unsere Räder schlummern in der Kabine neben unserem Bett, wir finden auch wieder unsere Nieschen an Bord und bei den Landgängen.
Wir dürfen eine traumhafte Rennrad-Runde auf Mallorca erleben.
Wir wandern in Alicante auf die Burg Castillo de Santa Bárbara und genießen ein Feierabend-Bierchen am Strand.
Abends fährt das Schiff immer weiter. (Mancher Gast sitzt dann gerne im Indoor-Pool.)
In Cartagena bummeln wir noch einmal gemütlich durch die Stadt, die wir schon letzten Herbst genossen haben.
Morgens kommt das Schiff immer an. (Mancher Gast sitzt zum Sonnenaufgang im Whirlpool.)
In Malaga baden wir im Meer, spazieren über die Burg und treffen unsere Freunde am Strand. Sie sind gerade mit dem Camper hier unterwegs.
Und wir kommen endlich nach Cadíz, was uns im letzten Winter wegen des Wetters und unserer Reisepläne nicht möglich war.
Das Herbstlicht sorgt für eine ganz besondere Stimmung, in den Gassen der Altstadt lassen wir den Tag ausklingen. Übermorgen treffen wir unseren Freund Gunnar in Lissabon und dann sind die Kanaren zum Greifen nah.
Kurz vor dem Ablegen in Cadíz werfen wir auf dem Sportdeck, wie so oft in den letzten Tagen nach dem Abendessen, noch ein paar Basketbälle in Richtung Korb. Ein lustiges Wurfspiel, das wir noch aus unserer Zeit an der Sportuniversität gut kennen.
Der Ball prallt auf den Ring, macht einen großen Bogen hinter mich. „Den kriegst du noch!“, denke ich. Wenig später schnalzt es, ich sitze auf dem Boden. Irgendetwas ist anders. Nichts tut weh, aber ich stehe auch nicht auf. Ich halte einfach nur mein Knie, meine Kniescheibe, die nicht mehr da ist, wo sie mal war.
Die Ablege-Musik tönt aus den Boxen: „Sail away, sail away, sail away!“. Gleichzeitig kommt die Kranken-Trage mit dem zugehörigen Personal. Als ich aufstehen will, ein stechender Schmerz im Knie! Game over – nichts geht mehr.
„Ich glaub, das ist das Ende dieser Reise!“, flüstere ich Katrin zu. Sie drückt mich: „Nein, nein, bestimmt nicht!“.
Noch ein Tag auf See.
Dann geht alles ganz schnell. In Lissabon gehen wir von Bord, Gunnar holt unsere Fahrräder ab, ich hinke so flott ich kann (also nicht sehr) zum Bahnhof Santa Apolónia, von wo aus wir Richtung spanische Grenze fahren werden.
Da ich keine Schmerzen habe und mit der Streckschiene auch leidlich humpeln kann, steht einer viertägigen Zugreise gen Heimat nichts im Wege! Das Gepäck nehmen wir mit, wir wissen ja nicht, wie wann und wo es weitergeht. Katrin darf also ab jetzt 40 kg Fahrradtaschen schleppen!
In Badajoz, einer Kleinstadt der Extremadura, erleben wir die „Illumination“ der Weihnachtsbeleuchtung und lassen den Tag in einer urigen Tapas-Bar bei kräftigem Rotwein ausklingen.
Am nächsten Tag starten wir um 6:00 per Taxi zum Bahnhof und genießen in der „Mutter aller Frühstücksbars“ (mit eigenem Iberico-Schneider!) ein typisch spanisches Desayuno!
Danach zittern wir vier Stunden lang im IC nach Madrid, ob wir unseren Anschlusszug nach Nîmes erreichen werden. Die 30 Minuten, die wir zum Umsteigen Zeit hätten, pulverisiert der IC quasi am ersten Halt und fährt auch keine Minute mehr rein. Trotz unmenschlicher Anstrengung gelingt es uns nicht, den AVE zu erreichen. Neun Minuten für 500 m Strecke auf einem unbekannten Bahnhof, samt Check-in-Prozedere und Gepäckdurchleuchtung. Leider waren also weder mein „Sprint“ mit gerissener Patellasehne noch Katrins Tragen von fast ihrem eigenen Körpergewicht als Gepäck über 500 m von Erfolg gekrönt.
Oder doch? Gezwungenermaßen übernachten wir also nun in Madrid (über Geld sprechen wir dabei nicht!) und entschleunigen so unsere Rückreise.
Ein Engel am Renfe-Schalter hatte zudem unsere verfallenen Tickets nach Nîmes auf magische Weise in 1.Klasse-Tickets für den nächsten Tag verwandelt. Ausgeschlafen und voller positiver Energie (allerdings mit einem noch immer dicken Knie) rollen wir in neun Stunden quer durch Spanien und entlang der Côte d’Azur nach Nîmes. Selbes Hotel, gleiche Pizza. Aber diesmal per UberEat an „Katrine“ direkt ins Hotel geliefert.
Schnell essen, morgen um 5:00 Uhr gehts weiter nach Genf, Zürich und Bregenz.
Unser Freund Bernd holt uns am Bahnhof ab und genau 14 Tage nach dem nasskalten, grauen Morgen mit Blick auf den Grünten sitze ich wieder auf dem heimischen Sofa. Zufrieden? Nein, weil die Reise nun jäh endet, ja, weil ich auf ein schönes, sichers Zuhause setzen kann und schon morgen einen Arzttermin habe. Was nun folgt ist die besagte Winterpause, allerdings mit der Betonung auf Pause. Weit weg von den Kanaren, weit weg von Marokko!
Und was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Weit, weit weg von einem „normalen“ Alltag.